Zu Besuch in russisch-orthodoxer Gemeinde: Sprechen nicht über Krieg
Graue Plattenbauten an der Allee der Kosmonauten, daneben Shopping-Center mit Billig-Angeboten, betonierte Parkplätze. Ein paar Frauen suchen hier Schatten, machen Pause, rauchen eine Zigarette. Daneben, von einem Zaun umgeben, liegt – wie auf einer Insel – eine weiß getünchte Holzkirche mit vergoldeter Kuppel. Das kleine Gotteshaus fällt auf in Marzahn-Hellersdorf im Osten Berlins, wo die Menschen mit weniger Geld zurecht kommen müssen als anderswo in der Hauptstadt. Die Einkommen sind niedrig, die Arbeitslosigkeit ist hoch.
Zwischen 150 und 200 Gläubige feiern hier am Rande Berlins in der Kirche der russisch-orthodoxen Gemeinde jeden Sonntag Gottesdienst. "An Feiertagen wie zu Ostern oder Pfingsten können es schon mal 1.000 sein", sagt Evgeny Murzin, ein Mann von Anfang 40 im hellblauen Leinenhemd, der hier Gemeindepriester ist. Gastfreundlich bietet er Kaffee und Kekse an.
"Ich bete ständig für den Frieden"
Er ist bereit, zum Angriff Russlands auf die Ukraine aus seiner Perspektive Rede und Antwort zu stehen – anders als viele Priester in anderen russisch-orthodoxen Berliner Gemeinden, die "nicht so gern mit Journalisten sprechen wollen", wie er erzählt. Dimitri Krasnikov (42), Anwärter auf das Diakonenamt, der "wenn Gott will" auch einmal Priester werden wird, sitzt mit am Kaffeetisch im Hinterzimmer der kleinen Kirche. Ikonen blicken von den Wänden.
Es ist ein freundliches, wenn auch nicht leichtes Gespräch, zu unterschiedlich sind die Perspektiven. "Ich bin grundsätzlich gegen Krieg, das sage ich ganz klar", sagt der 44-jährige Murzin. "Ich bete ständig für den Frieden." Genauer positionieren zum russischen Angriff auf die Ukraine will er sich aber nicht.
Marzahn-Hellersdorf hat rund 38.000 russlanddeutsche Einwohner und ist damit der Berliner Bezirk mit dem größten Anteil der deutschstämmigen Menschen, die seit den 1990er Jahren aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion kamen. Insgesamt sind es in ganz Berlin 300.000. 70 Prozent seiner Gemeindeangehörigen hätten solche Wurzeln, erklärt Murzin. Hinzu kämen Moldawier, Kasachen oder Georgier.
"Die russisch-orthodoxe Kirche ist keine Kirche einer Nation, viele Völker gehören zu uns", versichert der Geistliche. Auch viele Ukrainer seien Mitglieder, mit steigender Tendenz. Seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar sei deren Zahl um ein Drittel gewachsen, sagt Murzin. Manchmal feiert er deshalb sonntags sogar zweimal Gottesdienst. Die Gemeinde helfe den Flüchtlingen, sammle Spenden. Viele Mitglieder hätten auch selbst Flüchtlinge aufgenommen. "Wir unterscheiden nicht nach Nationen in unserer Gemeinde. Das sind doch alles unsere Leute", so Murzin.
"Politik macht den Kopf und den Geist kaputt"
Ganz so problemlos ist die Situation allerdings nicht. Erst kürzlich hatte die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats wegen der verbalen Unterstützung des russischen Angriffs auf die Ukraine durch Patriarch Kyrill I. ihre vollständige Unabhängigkeit von Moskau erklärt. Wie funktioniert da das Zusammenleben von Russen und Ukrainern in der russisch-orthodoxen Berliner Gemeinde? Gibt es wirklich keine Konflikte?
"Ich sehe meine Aufgabe darin, die Gemeinde zusammenzuhalten. Wir sprechen nicht über den Krieg", äußert Murzin sich diplomatisch. Er wolle keine "Konfrontation", betont er. Politik sei grundsätzlich überhaupt kein Thema für ihn. Und Krasnikov ergänzt: "Politik macht den Kopf und den Geist kaputt."
Die Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine können beide Männer nicht verstehen. "Man muss Frieden schaffen ohne Waffen. Ich bin enttäuscht, dass auch die deutschen Bischöfe sich für Waffenlieferungen ausgesprochen haben", sagt Murzin. Dieser Meinung ist auch Krasnikov. Er sagt aber auch: "Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen."
„Meine Nachbarin, mit der ich mich eigentlich gut verstanden habe, spricht seitdem kein Wort mehr mit mir.“
Beide sind der Meinung, der Westen wolle mit der militärischen Unterstützung vor allen Dingen "Putin schaden" und verfolge "eigene Interessen". Ein starkes Russland sei schließlich "nicht im Sinne des kapitalistischen Westens", vermutet Murzin. Hilfe für die Ukraine stehe bei diesem Handeln seiner Meinung nach jedenfalls nicht im Vordergrund.
Vor sieben Jahren kam er von Moskau nach Deutschland und lebt gerne hier, wie er erzählt. Seit dem russischen Angriff habe sich die Stimmung gegenüber Russen aber geändert. "Meine Nachbarin, mit der ich mich eigentlich gut verstanden habe, spricht seitdem kein Wort mehr mit mir", sagt er. Vor allen Dingen sei es "schmerzhaft", dass sich der Konflikt auch auf die Bedeutung der russischen Kultur in Europa übertragen habe. "Für mich ist die russische Kultur ein Teil der europäischen Kultur", sagt Murzin. "Ich bedauere es sehr, dass sie durch den Krieg zunehmend ins Abseits gedrängt wird."
"Da müssen Sie den Patriarchen selbst fragen"
Kritik an Kyrill I., dem Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, dem die Gemeinden in Berlin und Deutschland unterstehen, wiegelt er ab. Seine Äußerungen könne "er als Priester nicht einschätzen", sagt er. "Da müssen Sie den Patriarchen selbst fragen."
Beide Männer sprechen Russisch, haben Kontakte in ihre Heimatländer. Was hat Putin langfristig vor? Was ist sein Ziel? Die Männer schauen sich an und schütteln die Köpfe, müssen sogar ein wenig lachen. Offenbar ist die Frage zu naiv. "Das wissen wir auch nicht", sagt Murzin. "Und ich bin sicher, nicht einmal seine engsten Berater wissen es."