Warum ein Verhaltenskodex im Bistum Chur für "Verwirrung" sorgt
Es brodelt im Bistum Chur: Denn seit etwas mehr als zwei Monaten gibt es dort Streit zwischen dem Bischof und einem Teil seines Klerus. Der Stein des Anstoßes in der seit Jahren zerstrittenen Diözese ist ein 32-seitiges Papier mit dem Titel "Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht". Joseph Bonnemain, seit März 2021 Oberhirte von Chur, hatte das Dokument Anfang April dieses Jahres vorgelegt und für alle kirchlichen Mitarbeiter, Seelsorger und Führungskräfte verbindlich gemacht – inklusive seiner eigenen Person. Der Verhaltenskodex soll sexueller Gewalt und spirituellem Missbrauch in der Diözese vorbeugen und den Umgang mit Macht regeln. Deshalb muss das Papier von jedem Mitarbeiter des Bistums Chur unterzeichnet und verpflichtend befolgt werden. Es schreibt unter anderem vor, wie der kirchliche Dienst vom Privatleben zu trennen ist oder auf welche Weise spirituelle Manipulation verhindert werden soll.
Die rund 40 Priester des Bistums, die Ende April erklärten, ihre Unterschrift unter den weitreichenden Verhaltenskodex zu verweigern, kritisieren nicht die allgemeine Ausrichtung des Präventionsdokuments. 95 Prozent der im Kodex aufgelisteten Inhalte "betrachten wir als Ausdruck des gesunden Menschenverstands und des Anstands", heißt es in der Stellungnahme der Geistlichen, die zum sogenannten Churer Priesterkreis gehören. Damit beziehen sich die Kleriker auf die vielen praktischen Hinweise des Papiers. So fordert der Verhaltenskodex etwa, dass "intime Begegnungen", wie Saunabesuche oder Massagen, nicht gemeinsam mit Personen gemacht werden, die in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinanderstehen. Auch werden die Kirchenmitarbeiter ausdrücklich davor gewarnt, etwa bei Freizeiten im selben Raum wie Kinder und Jugendliche zu übernachten – "zum Schutz beider Seiten".
Churer Priesterkreis empfindet bestimmte Stellen des Kodex als "Zumutung"
Neben diesen scheinbaren Selbstverständlichkeiten im Umgang von Seelsorgern mit ihnen anvertrauten Menschen geht der Verhaltenskodex einen Schritt weiter: Das Papier will einen pastoralen Stil etablieren, der sensibel und für Menschen aufgeschlossen ist, die spirituell auf der Suche sind. Das Ziel ist dabei die Verhinderung von geistlichem Missbrauch. Konkret schreibt der Kodex daher etwa vor, bei religiösen Ritualen, die mit Körperkontakt verbunden sind, zuvor die Zustimmung zur Berührung beim jeweiligen Gläubigen einzuholen. Im Fokus stehen hier wohl Segnungen, die Lossprechung in der Beichte oder die Krankensalbung. Auch die Bedeutung von geistlicher Begleitung wird umfassend angesprochen: So dürfe etwa das Begleitungsangebot nie zu mehr Abhängigkeit führen, sondern müsse "die Eigenständigkeit fördern". Außerdem sollten Menschen durch Priester nicht zu einem Reinheits- oder Keuschheitsversprechen gedrängt werden. Damit fordert die Churer Verpflichtung Standards, die jedem geistlichen Begleiter bekannt sein dürften, jedoch bei weitem nicht überall und immer eingehalten werden.
Auch hier gehen die Kritiker aus dem Churer Priesterkreis größtenteils mit. Doch die Stellen des Verhaltenskodex, an denen die kirchliche Sexualmoral und das katholische Eheverständnis thematisiert werden, rufen heftige Kritik aus ihren Reihen hervor. Die Mitglieder des Priesterkreises empfinden es als "Zumutung", die sexuelle Selbstbestimmung von Menschen positiv zu würdigen und etwa einem Coming-out "unterstützend zur Seite zu stehen", wie es im Kodex gefordert wird. Auch folgender Satz des Papiers missfällt den Priestern: "Ich verzichte auf pauschal negative Bewertungen von angeblich unbiblischem Verhalten aufgrund der sexuellen Orientierung." Wer diesen Satz unterschreibe, könne nicht mehr die kirchliche Lehre zur Homosexualität verkünden, wie sie im Katechismus festgehalten sei, schreiben sie in ihrer Stellungnahme vom April.
Sie sehen zudem die kirchliche Ehevorbereitung infrage gestellt, etwa durch folgende Passage: "In Seelsorgegesprächen greife ich Themen rund um Sexualität nicht aktiv auf. In jedem Fall unterlasse ich offensives Ausfragen zum Intimleben und zum Beziehungsstatus. Dies gilt auch für Gespräche, die ich als Vorgesetzte*r führe." Entsprechend dieser Regel dürften Pfarrer die Brautleute im Traugespräch nicht mehr fragen, ob sie einer Ehe als sakramentaler Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau zustimmen, so die Befürchtungen der Kritiker. Sie sehen die Gefahr, dass das Bistum Chur durch die Bestimmungen des Kodex zu einem "Sonderfall" in der weltweiten katholischen Kirche werde, weil Kirchenmitarbeitern bei der "Verkündigung der Glaubens- und Sittenlehre ein Maulkorb umgehängt würde". Damit stellen sich die Mitglieder des Churer Priesterkreises als Vorkämpfer für die traditionelle Sexualmoral der Kirche dar, die aufgrund ihrer von vielen Gläubigen als konservativ und nicht mehr zeitgemäß empfundenen Ausrichtung in der Kritik steht – und das nicht nur etwa im deutschen Sprachraum, wie sich beim Synodalen Weg zeigt, sondern weltweit.
Verständnis für den Protest des Priesterkreises äußerte der Churer Pastoraltheologe Manfred Belok. Er könne nachvollziehen, dass die Geistlichen etwas nicht unterschreiben würden, "das der Lehre der katholischen Kirche widerspricht". Der Theologieprofessor wünscht sich, dass Papst Franziskus die Aussagen im Katechismus zu Homosexualität, die seiner Meinung nach zu den Spannungen in Chur führen, längst bereinigt hätte. Bischof Bonnemain hingegen bedauerte die öffentliche Kritik der Priester am Verhaltenskodex. Unmittelbar nach der Veröffentlichung des ersten Statements versicherte er den Priestern, dass er ihre Bedenken sehr ernst nehme. Nach einem Treffen mit ihnen im Mai lehnte er die geforderte Revidierung der kritisierten Formulierungen jedoch ab. Nach Angaben des Priesterkreises vertrat der Bischof den Standpunkt, dass die "Textpassagen so erklärt werden könnten, dass sie unbedenklich für die römisch-katholische Lehre seien", berichtete damals die "Luzerner Zeitung". Außerdem relativierte Bonnemain im vergangenen Monat die Kritik am Dokument: Rund 95 Prozent der Priester stünden hinter dem Verhaltenskodex der Diözese, "so groß sind die Differenzen also gar nicht".
Bald Einführungsveranstaltungen zum Verhaltenskodex
Gelöst sind die Probleme um den Kodex im Bistum Chur mit diesen Beschwichtigungen noch lange nicht. In der zweiten Juni-Hälfte veröffentlichte der Priesterkreis nach einer weiteren Begegnung mit dem Bischof eine neue Stellungnahme. Darin halten die Kritiker ihre Forderungen aufrecht: Neben einer Anpassung des Verhaltenskodex, damit er künftig im Einklang mit der kirchlichen Lehre stehe, wollen sie auch die Verbindlichkeit des Papiers geklärt wissen. Denn in einem Interview sagte Bonnemain, dass das Dokument kein bischöflicher Erlass sei. Dennoch beanspruche es Verbindlichkeit, die vom Bischof auch eingefordert werde. Wer die Bestimmungen nicht akzeptiere, müsse mit dienstrechtlichen Maßnahmen rechnen, wie etwa, "dass diese Person eine Supervision wahrnimmt, unter Umständen eine psychotherapeutische Begleitung", wird Bonnemain vom Priesterkreis zitiert. "Wenn das auch nicht hilft, muss man sich am Schluss von einem solchen Mitarbeitenden trennen."
Zudem fordern die Kritiker Beratungen zum Kodex in den Räten des Bistums Chur. Den kirchlichen Gremien wie dem Priesterrat oder dem diözesanen Pastoralrat sei er vor der Veröffentlichung nicht zur Stellungnahme vorgelegt worden. "Wie ein solches Fait accompli mit der Synodalität, von der aktuell viel die Rede ist, vereinbar sein soll, ist vollends unklar." In der zweiten Jahreshälfte stehen in Chur nun sogenannte Einführungsveranstaltungen in die Bestimmungen des Verhaltenskodex an. Diese Schulungen seien aktuell "prioritär", denn dort könnten sich die Mitarbeiter "mit dem Inhalt des Verhaltenskodex auseinandersetzen, sich darüber austauschen und auch die strittigen Punkte zur Sprache bringen", teilte das Bistum Mitte Juni mit. Auch die diözesanen Räte würden Gelegenheit haben, sich mit dem Verhaltenskodex zu beschäftigen. Das Unterschreiben des Dokuments steht dabei nicht an erster Stelle, heißt es aus Chur. Für die Kritiker der "entstandenen Verwirrung" im Bistum mag das nur ein schwacher Trost sein. Denn der Priesterkreis geht davon aus, dass trotz seiner Anfragen an das Präventionspapier das Dokument nicht mehr zur Disposition steht. So bleibt es fraglich, ob die Schulungen zum Kodex das Bistum befrieden können.