Münchner Missbrauchsgutachten: Die Nachbeben von knapp 1.900 Seiten
Markus Söder spricht von einem "schweren Abgrund", in den man blicke. Der Ministerpräsident und CSU-Chef sagt das beim Jahresempfang des Erzbistums München und Freising. Und erinnert dann gleich noch an die hohen Austrittszahlen. In München sind sie vor allem seit dem 20. Januar in die Höhe geschossen, jenem Tag, an dem das Münchner Missbrauchsgutachten vorgestellt wurde, fast 1.900 Seiten dick. Weltweit hat die Untersuchung für Wirbel gesorgt und die Debatte über sexualisierte Gewalt befeuert, gerade auch in der Politik.
Söder plädiert, verpackt als Frage, für mehr Empathie und Respekt sowie eine höhere Entschädigung für die Betroffenen. Forderungen, die es schon vor dem 20. Januar gab und seitdem immer wieder. Die Ergebnisse der Untersuchung der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) haben im Kern nicht überrascht, weil es auch in München Jahrzehnte lang vor allem darum ging, eine Institution zu schützen. Doch die sehr unterschiedlichen Einlassungen der früheren Erzbischöfe waren bemerkenswert.
Erkenntnisse zu Joseph Ratzinger bestimmten Debatte
Vor allem jene 82 Seiten des emeritierten Papstes Benedikt XVI., dem früheren Erzbischof Joseph Ratzinger, haben die Debatte bestimmt, stritt er doch darin im Kern jede Verantwortung ab. Zugleich musste der Emertitus nachträglich eine Angabe korrigieren, wonach er bei einer entscheidenden Sitzung im Fall H. nicht dabei gewesen sei.
Es war sein Nachfolger im Amt des Münchner Erzbischofs, Kardinal Friedrich Wetter, der nach dem Gutachten mit einer bemerkenswerten Wortmeldung auf die Gesamtverantwortung der Bischöfe verwies. Diese hätten sie unabhängig von Wissen oder Unwissen zu einzelnen Fällen, gab er in einer schriftlichen Erklärung zu Protokoll. So weit ging kein anderer im Gutachten belastete Verantwortungsträger. Einer, nämlich der Offizial und Leiter des Katholischen Büros, Lorenz Wolf, stellte seine Ämter zur Verfügung.
Doch wie verhält sich der amtierende Erzbischof nach dem Gutachten? Wie ernst meint Kardinal Reinhard Marx seine Aussage, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Mittelpunkt stünden? Nachfrage bei der Vorsitzenden der unabhängigen Aufarbeitungskommission: Michaela Huber, selbst schon länger aus der Kirche ausgetreten, bewertet das Engagement der Bistumsleitung sehr positiv. Die sei hochengagiert bei der Verbesserung der Strukturen von Intervention und Prävention. "Sie tun, was machbar ist", sagt Huber und verweist darauf, dass ihre Kommission diese Strukturen genau unter die Lupe genommen habe. Man setze sich derzeit mit den von den Gutachtern vorgeschlagenen Empfehlungen auseinander.
Gegenwärtig richtet die Kommission ihren Fokus auf die Betroffenen und auf Gemeinden, in denen Missbrauchstäter tätig waren. Im Herbst wolle sie mit einer großen Veranstaltung all jene ermutigen sich zu melden, die dies noch nicht getan hätten, sagt Huber.
Betroffenenbeirat für mehr staatliche Verantwortung bei Aufarbeitung
Richard Kick klingt weniger zufrieden. Er sitzt im Betroffenenbeirat und hat in mehreren offenen Briefen an Marx weitere Schritte angemahnt, etwa jene von den Gutachtern empfohlene Ombudsstelle. Sie soll eine unabhängige, aber eben auch parteiische Interessensvertretung der Betroffenen sein, wie er sagt. Darauf gebe es bisher keine Resonanz bei der Bistumsleitung. Auch wenn man immer schnell auf Anfragen des Beirats reagiere, "eine Eigeninitiative gibt es nicht". Für den Unternehmer ist klar: Der Staat muss mehr Verantwortung bei Aufklärung und Aufarbeitung übernehmen.
Das sieht auch die Landtagsopposition in Bayern so. Erst jüngst forderte die FDP wieder eine staatliche Ombudsstelle. Aus dem CSU-geführten Sozialministerium heißt es dazu auf Anfrage: "Was wir von staatlicher Seite dazu beitragen können, das tun wir. Eine zusätzliche Anlaufstelle brauchen wir dafür nicht." Denn bereits jetzt gebe es ein dichtes Netz an staatlichen Anlaufstellen für Missbrauchsopfer. Dieses werde durch nichtstaatliche Opferhilfeorganisationen und Beratungsstellen ergänzt.
Wie der Ministerpräsident mahnt auch Justizminister Georg Eisenreich zunächst mehr Engagement von den Kirchen an. Der CSU-Politiker verlangt deutliche Verbesserungen bei der unabhängigen Beratung der Betroffenen. "Wenn die Kirche das nicht selbst schafft, dann muss der Staat hier klare Verbesserungen einfordern. Die Kirche hat jetzt die Chance, zu handeln. Wir behalten das genau im Blick." Eisenreich fordert, dass künftig auch Verantwortliche mit bis zu drei Jahren Haft belangt werden können, wenn sie durch grobes Fehlverhalten sexuellen Missbrauch befördert haben.
Und was sagen die Gutachter selbst ein halbes Jahr danach? Zum Umgang mit ihren Empfehlungen wollen sie keine Angaben machen. Betroffene und deren Initiativen hätten ihnen jedoch für ihre Arbeit gedankt, lassen die Juristen verlauten. Außerdem gebe es eine wissenschaftliche Debatte zu rechtlichen, rechtspsychologischen und historischen Themen.
Fachwissen von Münchner Kanzlei im Ausland gefragt
Die Expertise der Münchner Anwälte wird zudem nun auch im Ausland nachgefragt. Man berate etwa die Kollegen jener Kanzlei in Spanien, die für die dortige Bischofskonferenz eine Studie vorlegen soll. Auch der portugiesischen Aufarbeitungskommission stehe man zur Seite.
Das Erzbistum selbst will am Donnerstag bei der Finanzpressekonferenz eine erste Zwischenbilanz zu Konsequenzen aus dem Gutachten ziehen, heißt es aus der Pressestelle. Themen seien Aufarbeitung und Prävention sowie die Unterstützung von Betroffenen. Der Münchner Kardinal Reinhard Marx macht schon beim Empfang vor einer Woche klar: Eine Alternative zu dem von ihm eingeschlagenen Weg gebe es nicht.