An der Frage der Abtreibung scheiden sich die katholischen Geister
Die Abtreibung ist zurück im Zentrum der politischen und kirchlichen Auseinandersetzung. Dabei hatte es nach dem Kompromiss zum Schwangerschaftsabbruch 1995 zunächst so ausgesehen, als wäre die Diskussion für längere Zeit ausgestanden. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland seitdem generell verboten, unter bestimmten Bedingungen jedoch straffrei – zum Beispiel, wenn sich die betroffene Frau mindestens drei Tage vor dem Eingriff beraten lässt und die 12. Schwangerschaftswoche noch nicht überschritten ist (§ 218 StGB hält die Strafbarkeit fest, § 218a die Möglichkeiten zur Straflosigkeit).
Die Unzufriedenheit derer, die sich für ein restriktiveres sowie ein liberaleres Abtreibungsrecht einsetzten, war weiter spürbar: Die katholische Kirche pochte darauf, dass Abtreibungen laut Katechismus "ein schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz" darstellen (KKK 2271). Zudem betraft das Kirchenrecht die an einem Schwangerschaftsabbruch beteiligten Katholiken mit der Tatstrafe der Exkommunikation. (Can. 1397 § 2 CIC)
Auf der anderen Seite sorgten einzelne Regelungen des momentanen Rechts für Unmut: Die Gießener Ärztin Kristina Hänel wies auf ihrer Internetseite darauf hin, dass sie auch Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Das brachte sie wegen des sogenannten Werbeverbots für Abtreibungen (§ 219a StGB) vor Gericht, stieß aber auch eine gesellschaftliche wie politische Debatte darüber an, wie sich Schwangere informieren können.
Zwei Umbrüche treffen aufeinander
Zuletzt trafen zwei Umbrüche in Regelungen zu Schwangerschaftsabbrüchen aufeinander: Am 24. Juni wurde im Deutschen Bundestag beschlossen, den Paragraf 219a – das sogenannte Werbeverbot – zu streichen, was von Verteidigern des Selbstbestimmungsrechts von Frauen als Erfolg gefeiert wurde. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) kündigte dabei gleich an, auch den Rest des Abtreibungsrechts auf den Prüfstand stellen zu wollen, da Schwangerschaftsabbrüche "außerhalb des Strafgesetzbuches" geregelt werden sollten.
Noch am gleichen Tag wies dann eine Entscheidung aus den USA in eine ganz andere Richtung: Die dort teilweise sehr liberale Regelung zur Möglichkeit von Schwangerschaftsabbrüchen – etwa mit der Möglichkeit, auch kurz vor dem Geburtstermin noch abzutreiben – wurde vom Obersten Gericht gekippt. Damit steht es den Bundesstaaten frei, eigene Gesetzte dazu zu erlassen. Einige Gouverneure haben bereits angekündigt oder umgesetzt, Schwangerschaftsabbrüche mehr oder weniger unmöglich zu machen.
In diesem Klima veröffentlichte die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) in der "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" vergangene Woche einen Gastbeitrag, in dem sie schrieb, das ZdK bewerte die "Aufhebung von Paragraf 219a dahingehend positiv, dass damit Rechtsunsicherheiten für Ärztinnen und Ärzte aufgehoben werden und Informationsmöglichkeiten für Frauen ausgeweitet werden". An der Fristenregelung des Paragrafen 218a hält sie allerdings fest. Dieser "darf unter keinen Umständen in seiner Substanz angetastet werden".
Schwangerschaftsabbrüche flächendeckend ermöglichen
Für Aufsehen sorgte jedoch ein Absatz davor, in dem Stetter-Karp einerseits konstatiert: "Das ZdK tritt dafür ein, dass ein Schwangerschaftsabbruch nicht als reguläre medizinische Dienstleistung betrachtet wird." Kurz darauf setzt sie aber nach: "Zugleich ist sicherzustellen, dass der medizinische Eingriff eines Schwangerschaftsabbruchs flächendeckend ermöglicht wird. Das ist derzeit nicht der Fall, weil insbesondere im ländlichen Raum – unabhängig von seiner konfessionellen Prägung – die gynäkologische Versorgung fehlt."
Zunächst einmal spricht der Text eine Situation an, die es in Deutschland tatsächlich gibt: Waren laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2003 noch mehr als 2.000 Praxen und Krankenhäuser verzeichnet, die Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, waren es Ende 2021 nur noch 1.092 – wenn sich auch die Zahlen wegen verschiedener Erfassungsmethoden nur eingeschränkt vergleichen lassen. Was sich aber leicht vergleichen lässt, ist der stetige Rückgang des medizinischen Angebots einer Abtreibung seit 2018: Da waren es noch 1.160, ein Jahr später dann 1.149 und 2020 nur noch 1.109. Der Zugang für Frauen zu den entsprechenden medizinischen Angeboten wird also vor allem außerhalb der Ballungszentren immer schwieriger.
Für Stetter-Karp ist die Beschäftigung mit dem Thema nichts Neues: Nachdem sich die katholische Kirche in Deutschland auf Druck von Papst Johannes Paul II. aus der Schwangerenkonfliktberatung zurückziehen musste und seitdem keine Beratungsscheine für Schwangerschaftsabbrüche mehr ausstellen darf, gründete sie 1999 mit anderen Engagierten den Verein "Donum vitae", der die Beratungen vor dem Hintergrund des katholischen Menschenbildes weiterführt.
Widerspruch zu Bischöfen
Auf den Gastbeitrag Stetter-Karps reagierte der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, indem er betonte, dass die Bischöfe anders als Stetter-Karp die Abschaffung von Paragraf 219a bedauerten. Zudem sagte er: "Die von ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp vorgetragene Position zur Notwendigkeit eines flächendeckenden Angebots von Schwangerschaftsabbrüchen widerspricht der Haltung der Deutschen Bischofskonferenz. Statt einer flächendeckenden Möglichkeit für Abtreibungen brauchen wir ein flächendeckendes qualifiziertes Beratungsangebot für Frauen."
Der Journalist Philipp Greifenstein sieht das anders. Er schreibt im Kirchen-Online-Magazin "Die Eule", dass die flächendeckende qualifizierte Beratung wohl in keinem Land der Welt so gut aufgestellt sei wie in Deutschland. Es mangele im ländlichen Raum nicht an Beratungsstellen, "wohl aber an Ärzt:innen, die einen Abbruch auch durchführen können und wollen". In eine ähnliche Richtung argumentierte auch Stetter-Karp selbst noch einmal. In einer Pressemitteilung des ZdK vom Freitag hieß es: "Die gesetzliche Beratung ist seit Jahrzehnten bewährt. Sie schließt aber das Selbstbestimmungsrecht der Frau ausdrücklich ein."
Für die konservative Gruppierung "Maria 1.0" ist nach Stetter-Karps Wortmeldung allerdings klar: Die ZdK-Präsidentin muss zurücktreten. "Dass sich aber eine der obersten Vertreterinnen des Funktionärskatholizismus bei dem sensiblen und wichtigen Thema 'Lebensschutz' so explizit gegen die offizielle Lehre der katholischen Kirche stellt, erschreckt", heißt es in einer Pressemitteilung. Einer Internet-Petition, die Stetter-Karps Rücktritt fordert, schlossen sich (Stand 20.07.2022) etwas mehr als 2.000 Personen an.
Abtreibung als katholische Frage
Der Rottenburger Weihbischof Thomas Maria Renz griff das Thema ebenfalls auf, ohne jedoch den Namen der ZdK-Präsidentin zu nennen: "Es kann nicht katholisch sein, wer sich nicht klar und eindeutig zum uneingeschränkten Recht auf Leben von Anfang an bekennt!", schrieb er am Mittwoch. "Wer katholisch sein und bleiben möchte, wird daher selbstverständlich ein flächendeckendes Angebot von vielfältigen Hilfen für Schwangere in Konfliktsituationen fordern, nicht aber ein flächendeckendes Angebot an Möglichkeiten, sich des eigenen Nachwuchses zu entledigen."
Der Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen und ZdK-Mitglied Thomas Arnold hält es zumindest für gewagt, angesichts großer Herausforderungen wie dem Krieg in der Ukraine nun eine solch existentielle Debatte anzustoßen. Er hätte es besser gefunden, "mit diesem Impuls die nächste Vollversammlung zu eröffnen, um sich als ganzes ZdK in einer veränderten Zeit der eigenen Position zu versichern", so Arnold gegenüber katholisch.de. Eine neue Debatte laufe Gefahr, Polarisierungen innerhalb und außerhalb der Kirche zu verstärken. Angesichts der neuen Diskussion mahnt er: "Wer am Lebensanfang ein flächendeckendes Angebot fordert, läuft Gefahr, das Gewissen des Einzelnen und die Freiheit der freien Träger zu unterlaufen. Und wer ein flächendeckendes Angebot für den Lebensanfang fordert, läuft Gefahr, mit gleicher Begründung auch das flächendeckende Angebot am Lebensende umsetzen zu müssen."
Von anderer Stelle gibt es durchaus Zustimmung für die ZdK-Präsidentin: So betont die Bundesvorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (kfd), Mechthild Heil, gegenüber katholisch.de einerseits den Wert der ergebnisoffenen Beratung von Schwangeren, sagt aber auch: "Diese Beratung sollte flächendeckend angeboten werden sowie dann ggf. auch die Möglichkeit eines medizinischen Eingriffs." Denn als katholische Frauengemeinschaft achte man "die beiden zu schützenden gleichwertigen Persönlichkeitsrechte: das Selbstbestimmungsrecht der Frau und das Lebensrecht des Kindes".
Unter Katholikinnen und Katholiken werden die Entscheidungsfreiheit von Frauen und das uneingeschränkte Recht auf Leben sehr unterschiedlich gewichtet. Es wird klar, dass die kirchliche Lehre längst nicht mehr bei allen Gläubigen auf Resonanz trifft. Dazu passen auch die Ergebnisse von Umfragen unter den vermeintlich konservativen Katholiken in den USA. Das Meinungsforschungsinstitut RealClear Opinion Research fand heraus, dass nur neun Prozent der befragten Katholiken hinter der Kirchenlehre von Abtreibung als schwerer Sünde stehen. Allerdings sprachen sich mehr als 80 Prozent für Einschränkungen beim Recht auf Abtreibungen aus, nur ein knappes Fünftel wollte einen Abbruch bis zum neunten Monat ermöglichen. Während für Papst Franziskus weiterhin klar ist, dass Abtreibungen dem "Anheuern eines Auftragsmörders" gleichkommen, werden die Diskussion rund um das Thema in vielen Ortskirchen weitergehen – ob in den USA, in Deutschland oder anderswo.