Kein Strafverfahren im Vatikan nach Belästigungsvorwürfen

Im Regelfall Standesjustiz – Kirchenrechtler Anuth zum Fall Ouellet

Veröffentlicht am 25.08.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Tübingen ‐ Kaum wurden Vorwürfe gegen Kurienkardinal Ouellet bekannt, er habe vor Jahren eine Praktikantin sexuell belästigt, spricht der Vatikan ihn frei: Die kanonische Voruntersuchung sei ergebnislos verlaufen. Der Kirchenrechtler Bernhard Anuth kann das nachvollziehen – sieht aber erheblichen Reformbedarf in der Kirchenjustiz.

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Papst Franziskus eröffnet keine kirchenrechtliche Untersuchung gegen Kurienkardinal Marc Ouellet. Dem heutigen Präfekten des Bischofsdikasteriums wird vorgeworfen, eine ehemalige Praktikantin in seiner Zeit als Erzbischof von Québec übergriffig berührt zu haben. Ein kirchliches Strafverfahren ist jetzt vom Tisch. Grundlage der Entscheidung des Papstes war eine kanonische Voruntersuchung durch den Jesuitenpater Jacques Servais, der dazu von Franziskus beauftragt worden war. Doch Servais ist weder Jurist noch Kirchenrechtler und steht Ouellet nahe: Hatte er die nötige Kompetenz? War er befangen?  Im Interview mit katholisch.de erläutert der Tübinger Kirchenrechtler Bernhard Sven Anuth die Rechtslage und den Ablauf von kanonischen Voruntersuchungen in Missbrauchsfällen – und nennt Reformbedarf im kirchlichen Straf- und Strafprozessrecht, um Missbrauch und Betroffenen in der Kirche rechtlich angemessener zu begegnen.

Frage: Professor Anuth, am Donnerstag teilte der Heilige Stuhl mit, dass nach der kanonischen Voruntersuchung keine ausreichenden Anhaltspunkte gegen Kardinal Marc Ouellet vorliegen, um eine Untersuchung wegen sexueller Nötigung einzuleiten. Hat Sie dieses Ergebnis überrascht?

Anuth: Nein, das hat es nicht. Denn das, was dem Kardinal Medienberichten zufolge vorgeworfen wird, war zum damaligen Zeitpunkt nach dem kirchlichen Gesetzbuch keine Straftat. Im Rahmen einer kanonischen Voruntersuchung ist ja nicht nur zu prüfen, ob sich der Anfangsverdacht einer behaupteten Tat erhärten lässt, sondern auch, ob durch die Tat gegebenenfalls überhaupt ein Straftatbestand verwirklicht wurde. Und weil letzteres im vorliegenden Fall offenbar nicht so ist, überrascht mich das Ergebnis dieser Voruntersuchung nicht. Es fehlt augenscheinlich jede Rechtsgrundlage für ein Strafverfahren.

Frage: Laut den bekannten Schilderungen der Betroffenen geht es um unerwünschte Berührungen im unteren Rückenbereich, Umarmungen, Massagen und einen Kuss auf die Wange. Die Voruntersuchung hat sexuelle Nötigung, "aggressione sessuale", geprüft. Im deutschen Strafrecht würde man bei solchen Schilderungen wohl § 184i StGB, Sexuelle Belästigung, prüfen. Das kanonische Strafrecht kennt also keinen vergleichbaren Tatbestand, mit dem sich solche Vorwürfe erfassen ließen?

Anuth: Zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt, also in den Jahren 2008 bis 2010, war das entsprechende Verhalten eines Klerikers zwar sicher ein Zölibatsverstoß, aber noch nicht strafbar. Erst seit der Papst mit Wirkung zum Dezember 2021 das kirchliche Strafrecht novelliert und einen diesbezüglich neuen Straftatbestand eingeführt hat, machen sich Kleriker strafbar, wenn sie mit jemandem unter Ausnutzung ihrer Autorität sexuelle Handlungen vollziehen oder den beziehungsweise die Betroffene zwingen, solche Handlungen zu ertragen. Allein aufgrund der aktuellen Medienberichte kann ich nicht abschließend beurteilen, ob im vorliegenden Fall eine nach heutigem Recht strafbare Handlung vorgelegen hat. Wären die behaupteten Taten allerdings 2022 geschehen, das heißt unter Geltung des aktuellen Strafrechts, hätten sie meines Erachtens in einem förmlichen Strafverfahren genauer untersucht werden müssen. Schließlich war die Betroffene eine Praktikantin und insofern vom Beschuldigten als Erzbischof wohl unbestritten abhängig, das heißt die behauptete Tat könnte durchaus unter Ausnutzung einer klerikalen beziehungsweise amtlichen Autorität begangen worden sein.

Frage: Was dem Kardinal vorgeworfen wird, ist mit dem priesterlichen Stand und der Zölibatsverpflichtung kaum in Einklang zu bringen. Welche Handlungsoptionen bietet das kirchliche Recht hier?

Anuth: Nicht jeder Zölibatsverstoß ist automatisch eine Straftat. Nur die aus Sicht des Gesetzgebers besonders schwerwiegenden sind kirchenrechtlich strafbewehrt. Das bedeutet aber nicht, dass der zuständige kirchliche Obere bei Zölibatsverstößen unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit keine Sanktionsmöglichkeiten hätte. Diese sind dann allerdings nicht strafrechtlicher, sondern "nur" disziplinarischer Art. Ob überhaupt und gegebenenfalls mit welchen Konsequenzen solche Disziplinarmaßnahmen ergriffen werden, entscheidet allerdings allein der zuständige Ordinarius, das heißt bei einem Kardinal der Papst.

Sammelklage in Kanada beschuldigt auch Kardinal Ouellet

Über 100 Betroffene haben sich einer Sammelklage gegen das kanadische Erzbistum Québec angeschlossen, wie in der vergangenen Woche durch einen Bericht des kanadischen Rundfunks bekannt wurde. Darin wird 88 Klerikern sexueller Missbrauch und Übergriffe vorgeworfen. Unter den Beschuldigten ist auch Kardinal Marc Ouellet, der von 2002 bis 2010 Erzbischof von Québec war und heute das einflussreiche Bischofsdikasterium im Vatikan leitet. Ouellet soll einer Praktikantin, die in den Berichten als “F” bezeichnet wurde, in den Jahren 2008 bis 2010 gegenüber übergriffig geworden sein. Dem Vatikan waren die Vorwürfe seit 2021 bekannt. Mit der kirchenrechtlichen Voruntersuchung beauftragte Papst Franziskus den Jesuitenpater Jacques Servais. Kurz nach Bekanntwerden der Sammelklage veröffentlichte der Heilige Stuhl das Ergebnis der kanonischen Voruntersuchung: Papst Franziskus habe nach eingehender Beratung entschieden, "dass es keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Eröffnung einer kanonischen Untersuchung wegen sexueller Nötigung von Kardinal Ouellet gegen Person F" gebe. Der Kardinal selbst weist die Vorwürfe zurück. Er bestreitet entschieden, "unangemessene Gesten" an der Beschwerdeführerin vorgenommen zu haben, teilte er mit

Frage: Auch wenn es keine unmittelbar passende Strafnorm gibt – ganz am Ende des kirchlichen Strafrechts findet sich die Generalnorm can. 1399 CIC, die eine Bestrafung einer "Verletzung eines göttlichen oder eines kanonischen Gesetzes" über die im Gesetz aufgeführten Tatbestände hinaus ermöglicht. Wäre das eine Möglichkeit, den Sachverhalt strafrechtlich zu fassen?

Anuth: Anders als wir es im demokratischen Rechtsstaat gewohnt sind, gilt im Kirchenrecht der Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" leider nicht. Aufgrund des von Ihnen angesprochenen can. 1399 CIC gilt stattdessen – und aus rechtsstaatlicher Perspektive durchaus problematisch – der Grundsatz "kein Verbrechen ohne Strafe". Der zuständige kirchliche Obere kann im Rückgriff auf diesen Canon also tatsächlich jedes Vergehen strafrechtlich ahnden, das ihm sanktionswürdig erscheint. Dass der Papst im vorliegenden Fall strafrechtlich also nichts habe machen können, trifft kirchenrechtlich nicht zu. Richtiger wäre die Auskunft: Der heutige Kardinal hat nach damals geltendem Recht offenbar keinen Straftatbestand verwirklicht, und der Papst sieht davon ab, sein Handeln nach can. 1399 CIC strafrechtlich zu ahnden.

Frage: Aus rechtsstaatlicher Perspektive verwundert auch die Person des Leiters der Voruntersuchung, Pater Jacques Servais. Der Jesuit leitet das römische Studienhaus Casa Balthasar und war zuvor Professor für systematische spirituelle Theologie und an der Glaubenskongregation tätig. Weder ist bekannt, dass er Erfahrungen mit Missbrauchsuntersuchungen hat, noch hat er einen fachlichen Hintergrund im kirchlichen oder weltlichen Recht. Welche Kompetenzen erwartet das Kirchenrecht von Leitern von Voruntersuchungen?

Anuth: Als Kanonist wünsche ich mir natürlich, dass mit einer kanonischen Voruntersuchung nur beauftragt wird, wer auch kirchenrechtlich geschult ist. Tatsächlich fordert das Kirchenrecht in can. 1717 § 1 CIC aber nur, dass die Person aus Sicht des zuständigen Ordinarius "geeignet" ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann der Ordinarius insofern recht frei entscheiden, wen er für geeignet hält. Im vorliegenden Fall war der Papst offenbar überzeugt, dass Servais auch ohne nachweisliche kirchenrechtliche Expertise geeignet ist.

Frage: Können kanonistische Laien überhaupt das umfangreiche und über viele Dokumente verstreute kirchliche Recht zum Umgang mit Missbrauch so überblicken, dass sie eine Voruntersuchung angemessen durchführen können?

Anuth: Ich will niemandem zu nahe treten, aber im Sinne der Qualitätssicherung kanonischer Voruntersuchungen schiene es mir grundsätzlich plausibel, damit nur jemanden zu beauftragen, der sich nachweislich auch mit dem Kirchenrecht gut auskennt. Ich kenne im vorliegenden Fall weder den Voruntersuchungsführer noch seinen entsprechenden Bericht und maße mir daher nicht an, ihn und seine Arbeit zu beurteilen. Grundsätzlich halte ich es aber weder für klug noch für zielführend, jemand mit einer kanonischen Voruntersuchung zu beauftragen, der weder juristisch noch kanonistisch ausgebildet ist.

Professor Bernhard Sven Anuth
Bild: ©Niclas Waldheim (Archivbild)

Bernhard Sven Anuth lehrt seit 2013 Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen und hat dort den Lehrstuhl für Kirchenrecht inne. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört der Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Kirche.

Frage: Das Kriterium der Geeignetheit ließe sich auch auf die persönliche Integrität in Bezug auf den Untersuchungsauftrag deuten. Servais und Ouellet kennen sich seit Jahrzehnten. Das von Servais geleitete Studienhaus wurde von den beiden gemeinsam mit anderen gegründet. Ouellet hatte dort Lehraufträge und publizierte in von Servais herausgegebenen Büchern. Die beiden stehen sich in ihren theologischen Ansätzen nahe. Hier liegt es nahe, Befangenheit anzunehmen. Ist das kirchenrechtlich relevant?

Anuth: Mit Blick auf die Voruntersuchung nicht. In einem kirchlichen Strafverfahren wäre eine Befangenheitseinrede gegen einen Richter durchaus möglich. Bei der Voruntersuchung gilt aber wie gesagt nur die gesetzliche Vorgabe, dass der zuständige Ordinarius die beauftragte Person für geeignet halten muss. Im vorliegenden Fall hatte Papst Franziskus trotz der persönlichen Nähe des Voruntersuchungsführers zum Kardinal offensichtlich keine Zweifel an dessen Geeignetheit. Ich kann allerdings nachvollziehen, dass diese Personalauswahl nicht gerade dazu beiträgt, neues Vertrauen in den kirchlichen Umgang mit Missbrauchsvorwürfen wachsen zu lassen.

Frage: Die geschilderte Rechtslage wirkt sehr unbefriedigend. Welchen Reformbedarf sehen Sie im kirchlichen Recht für den Umgang mit Sexualdelikten?

Anuth: Im Gegensatz zum staatlichen ermöglicht das kirchliche Prozessrecht Missbrauchsbetroffenen bis heute nicht, als Nebenkläger:innen eine aktive Rolle im Strafprozess gegen "ihren" Täter einzunehmen. Das haben auch Betroffenenvertreter:innen in der Vergangenheit wiederholt kritisiert: Wer einen Übergriff bei der Kirche anzeigt, ist in einem diesbezüglichen Strafverfahren nur Zeugin oder Zeuge, wird nicht einmal über den Ausgang des Prozesses informiert und kann währenddessen keine eigenen Anträge stellen, auch nicht aufgrund einer etwaigen Befangenheit von Verfahrensbeteiligten. Hier besteht aus meiner Sicht durchaus dringender Reformbedarf. Das zeigt ja auch der vorliegende Fall: Die damalige Praktikantin als Betroffene eines mutmaßlichen sexuellen Übergriffs durch den heutigen Kardinal hat diesen dafür angezeigt und ihre kirchenrechtlichen Möglichkeiten damit ausgeschöpft. Auf alles Weitere hat sie keinen Einfluss und hätte selbst bei Einleitung eines Strafverfahrens keine prozessualen Beteiligungsrechte geltend machen können. Die päpstliche Entscheidung, nach der Voruntersuchung keinen Strafprozess einzuleiten, muss sie insofern wehrlos hinnehmen. Zum Stichwort "Reformbedarf" sei darüber hinaus angemerkt, dass wir es innerkirchlich bei der Behandlung von Missbrauchsfällen bis heute mit einer Standesjustiz zu tun haben: Im Regelfall urteilen ausschließlich Priester über ihre "Mitbrüder". Erst zu Beginn des Jahres 2020 hat Papst Franziskus erlaubt, dass zumindest Anwalt und Prokurator in einem entsprechenden Verfahren auch Laien sein dürfen. Die Ämter des Richters, Kirchenanwalts, Notars oder Kanzlers können Nichtgeweihten aber weiterhin nur mit einer Dispens der Glaubenskongregation übertragen werden. Diesen Standesvorbehalt halte ich gerade angesichts des massiven Vertrauensverlustes, den die Kirche aufgrund ihres Umgangs mit Fällen sexuellen Missbrauchs erlitten hat, für nicht mehr begründ- und vermittelbar.

Frage: Kann das überhaupt geändert werden? Dass die Kirche ständisch organisiert ist, gilt nach kirchlichem Verständnis als gottgewollt.

Anuth: Die Existenz der beiden hierarchischen Stände von Klerikern und Laien gilt nach amtlicher Lehre und dementsprechend auch nach Kirchenrecht tatsächlich als unveränderlich. Über die mit der Zugehörigkeit zum Klerikerstand konkret verbundenen Pflichten und Rechte entscheidet der Papst allerdings frei und kann dabei ja sogar von der Zölibatspflicht dispensieren. Erst recht könnte er leicht auch die Rollen aller an einem Missbrauchsprozess Beteiligten für Nichtkleriker öffnen. Dass er dies bis heute nicht getan hat, ist daher als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers zu verstehen: Papst Franziskus will offenbar trotz allem bis heute nicht, dass Laien priesterliche Missbrauchstäter anklagen oder gar über sie urteilen.

Frage: Nun hat der Papst gerade das Strafrecht umfassend geändert. Ist es da wahrscheinlich, dass doch noch eine Reform kommt?

Anuth: Ich rechne ehrlich gesagt nicht damit. Die breite öffentliche Kritik am kirchlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch liegt lange genug auf dem Tisch und die Zeiten, in denen Bischöfe ihren Gläubigen gegenüber ohne Widerspruch erklären konnten, sexueller Missbrauch sei nur andernorts in der Weltkirche ein Problem, sind glücklicherweise lange vorbei. Seit der jüngsten Strafrechtsreform ist sexueller Missbrauch an Minderjährigen zwar rechtssystematisch nicht mehr nur ein strafbarer Zölibatsverstoß, sondern eine Straftat gegen Freiheit und Würde des Menschen. Sexuelle Gewalt gegen erwachsene Menschen ist allerdings auch nach der jüngsten Strafrechtsreform nur als Zölibatsverstoß strafbar. Hier hat die Kirche meines Erachtens noch viel zu lernen …

Von Felix Neumann