Welskop-Deffaa: Caritasverband ist "großer Dolmetscherdienst Gottes"
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Warum sind die Zusammenhänge zwischen Caritas und Kirche nicht nur von außen schwierig zu durchblicken, sondern auch von innen? Und hadern Caritas-Mitarbeitende mit der katholischen Kirche? Eva Maria Welskop-Deffaa, die Präsidentin des Deutschen Caritasverbands, spricht darüber im Interview.
Frage: Sie sind ein gutes Dreivierteljahr im Amt als Präsidentin der Caritas in Deutschland – für sechs Jahre gewählt. Sind Sie zufrieden oder gibt es bisher auch schon Enttäuschungen?
Welskop-Deffaa: Ich freue mich sehr, dass ich Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes sein darf. Es ist natürlich eine Phase großer Herausforderungen, in der ich das Amt angetreten habe. Es gibt politische Herausforderungen, kirchenpolitische Herausforderungen und auch verbandliche Herausforderungen, aber all das wird doch für mich persönlich im Augenblick noch überstrahlt von der Freude, dass man mir diese Aufgabe zugetraut hat und dass ich im 125. Jahr unseres Bestehens als Präsidentin gemeinsam mit dem Verband zurückblicken darf, um dann nach vorne schauen zu können und mit dazu beitragen zu dürfen, den Verband hoffentlich in eine gute Zukunft zu führen.
Frage: Nicht allen Menschen ist bewusst, dass die Caritas der katholischen Kirche zugehörig ist. Ist die Caritas eines der Aushängeschilder der katholischen Kirche?
Welskop-Deffaa: Die Zusammenhänge zwischen Caritas und Kirche sind ja tatsächlich nicht nur von außen kompliziert, sondern auch von innen. In diesem Jubiläumsjahr schauen wir natürlich auf die Anfänge. Ich glaube, der Teil der Geschichte ist am wenigsten bekannt: Es haben sich in Köln vor 125 Jahren, im November 1897, mehrere Dutzend Männer getroffen, um den Caritasverband zu gründen. Katholische Sozialreformer, die nach unserem heutigen Empfinden alle richtig gut katholisch waren und wirklich getragen waren von einem tiefen Glauben. Sie waren der Überzeugung, dass mit der Arbeit der Caritas auch die Botschaft des Evangeliums neu sichtbar wird in einer schwierigen Welt. Damals gab es durch die Industrialisierung ja auch viel Not und Armut.
Es hat dann nach dieser Gründung 20 Jahre gebraucht, bis der Deutsche Caritasverband von der Bischofskonferenz anerkannt war, weil die Bischöfe tatsächlich nicht so leicht davon zu überzeugen waren, dass in der Ausdrucksform der verbandlichen Caritas der Grundauftrag des Evangeliums seine zeitgemäße Form gefunden hat. Ich glaube, wenn man an diese Geschichte erinnert, dann spürt man schon, was das auf sich hat mit dem Verhältnis zwischen Caritas und Kirche.
Frage: Auf die Historie gucken wir gleich auch noch gemeinsam. Die katholische Kirche beschäftigt uns auch mit Schlagzeilen in den Medien immer wieder. Wie kritisch sehen Sie die Krisen der katholischen Kirche? Schaden die auch Einrichtungen wie der Caritas?
Welskop-Deffaa: Was wir im Augenblick sehr deutlich spüren, ist, dass Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, zum Teil auch Kolleginnen, die schon lange dabei sind und die eine sehr hohe Identifikation mit dem Deutschen Caritasverband haben, an ihrer Kirche und an der öffentlichen Wahrnehmung der Kirche leiden und dass dieses Leiden längst tiefer wirkt als nur an der Oberfläche. Dann fragen sich die Kolleginnen: Ist das, was wir tun, noch das, wofür wir mal angetreten sind? Können wir überhaupt noch wirksam sein, wie wir wirken wollen, wenn immer wieder rings um uns herum so viel Porzellan zerschlagen wird und so viele Missverständnisse produziert werden? Das macht mir wirklich Sorge, weil es Kollegen und Kolleginnen sind, denen ihre Kirche und ihr Glaube alles andere als egal ist.
Frage: Wird auch Ihr persönlicher Glaube davon beeindruckt?
Welskop-Deffaa: In den Jahren, in denen ich hier beim Deutschen Caritasverband arbeite – das sind jetzt fünf Jahre – wurde meine Beziehung zum Glauben deutlich gefestigt. Die Krisen waren für mich vorher schon sehr vital. Immer wieder habe ich mich gefragt: Was erlebe ich hier eigentlich? Die Wunden und die Schmerzen sind aber gelindert worden durch die Erfahrung der wunderbaren Arbeit, die wir in der Caritas leisten. An so vielen Stellen sind wir nahe bei den Nächsten – nahe bei denen, die unsere Hilfe brauchen. Ich empfinde den Caritasverband als so eine Art großen Dolmetscherdienst Gottes, der auch in einer säkularen Umwelt, in einer Welt, wo die Sprache des Glaubens nicht automatisch verstanden wird, durch das Handeln verständlich macht, worum es uns mit unserem Glauben und mit unserer Kirche geht.
Frage: Wenn Sie jetzt auf diese 125 Jahre zurückgucken: Welche Stationen sind Ihnen da besonders wichtig?
Welskop-Deffaa: Das ist wirklich eine interessante Frage – wir haben dieser Tage mit Kollegen und Kolleginnen noch mal überlegt, wie wir versuchen, die Geschichte so ein bisschen zu choreografieren. Im Verband gibt es ein großes Wissen über unseren Gründungspräsidenten Lorenz Werthmann und über seine quirlige Art in den ersten Jahren, die Idee des Verbandes überhaupt bekannt zu machen. Was längst nicht so gut bekannt ist, ist die Arbeit seines Nachfolgers Benedikt Kreutz. Das kommt mir jetzt in den Sinn, wo Sie mich fragen. Er war der Leiter der Hauptvertretung in Berlin im Ersten Weltkrieg. Er hat da sehr gute politische Kontakte aufgebaut, die er dann als Präsident in den 1920er-Jahren auch weitergeführt hat. Nach meiner Wahrnehmung hatte er ein ganz besonders gutes Verständnis davon, dass sich ein Wohlfahrtsverband als Dachverband über all die vielen Dienste und Einrichtungen dadurch legitimiert, dass das Gespräch mit der Bundespolitik – damals Reichspolitik – geführt wird.
Insofern bin ich fasziniert von der politischen Arbeit, die vom Deutschen Caritasverband in den 1920er-Jahren aufgebaut wurde und die damals auch das Reichsjugendwohlfahrtgesetz mit durchgesetzt hat. Das war ein Gesetz, das die Grundlagen geschaffen hat für die Jugendhilfearbeit, so wie wir sie heute kennen. Benedikt Kreutz hat auch in der Zusammenarbeit mit Hochschulen und Wissenschaft Grundlagen dafür geschaffen, dass zum Beispiel Lehrstühle für Caritaswissenschaften eingerichtet wurden. Die Weimarer Zeit ist eine der faszinierenden Phasen aus der Geschichte des Verbandes, die nicht ganz so gut bekannt sind wie die Anfangsjahre.
Frage: Was hat sich denn vom Beginn zu heute verändert?
Welskop-Deffaa: Was man sagen kann, ist: Am Beginn des Caritasverbandes tickte die kirchliche Welt ja noch sehr konfessionsverschieden. Der "Charitasverband für das katholische Deutschland", wie er damals hieß, verstand sich durchaus als Wettbewerber im Verhältnis zur "Inneren Mission" – zu den evangelischen Partnern. Ich glaube, heute wissen Diakonie und Caritasverband doch sehr gut, dass sie gemeinsam wahrgenommen werden als konfessionelle Wohlfahrtsverbände in einer Umgebung, die ansonsten immer stärker durch Säkularisierung und Entkirchlichung geprägt ist.
„Den Begriff "Liebestätigkeit" finde ich deswegen so schön, weil er noch unmittelbarer als der Begriff "Nächstenliebe" deutlich macht, dass es beim Caritasverband um die tätige Hilfe geht.“
Frage: Die Caritas ist auch zuständig für die Menschen, denen es nicht gut geht. Wir denken als allererstes an die, die beispielsweise auf der Straße leben. Insgesamt machen wir uns in der Gesellschaft gerade auch Gedanken wegen des Krieges in der Ukraine und wegen der Auswirkungen hier in Deutschland. Wie blicken Sie auf die Zukunft und darauf, dass wir damit rechnen müssen, weiterhin Gas einzusparen und die Heizung kalt zu lassen?
Welskop-Deffaa: In diesen Tagen ist das Thema Energiearmut und Gasumlage tatsächlich das Thema, das uns am stärksten umtreibt. Wir haben in unseren Beratungsdiensten einen enormen Anstieg an Anfragen, die rund um das Thema Miete, um das Thema Heizen und um das Thema Energie kreisen. Wir haben ja unseren "Stromsparcheck". Das ist ein Beratungsangebot des Deutschen Caritasverbandes seit mehr als zehn Jahren, wo wir an 150 Standorten in Deutschland für Haushalte im Transferleistungsbezug in der Wohnung der Personen schauen: Wo sind die versteckten Stromfresser? Wo kann man Energie sparen?
Jetzt kommen wir gerade in die neue Förderperiode. Normalerweise ist es so: Einige Partner verlassen uns und vielleicht zehn, 15 neue Interessenten wollen in das Programm aufgenommen werden. Wir haben aktuell 58 neue Anfragen, ob man in dem Programm mitwirken kann. Überwiegend von Kommunen, die jetzt große Sorge haben, ob die Gaspreis-Steigerungen bei ihren Bürgern und Bürgerinnen zu Stromsperren, zu Gassperren und zu Überforderungen führen. Da suchen wir dringend nach Möglichkeiten, dieses Angebot auszubauen, weil das wirklich existenzielle Sorgen der Menschen sind. Wenn man Angst hat, dass man im Winter die Heizung nicht mehr aufdrehen kann, weil man sonst die Gasrechnung nicht mehr bezahlen kann, dann ist das keine Sorge, die so am Rande liegt, sondern sie mündet wirklich in den Kern der eigenen Existenz.
Die politische Kommunikation zu diesem Thema ist, glaube ich, im Augenblick nicht für alle unsere Klienten und Klientinnen leicht nachvollziehbar. Das Thema Energiesicherheit ist unglaublich kompliziert. Wie geht das mit der Gasumlage? Können wir sicher sein, dass wir überhaupt im Winter noch genug Gas haben? Das erzeugt richtige Angst. Dann machen gerade Menschen mit schlechterer Bildung und mit weniger Einkommen auch Kaufentscheidungen, die total falsch sind. Sie kaufen Heizlüfter und denken, das sei jetzt das Dringendste, um zu verhindern, dass man im Winter frieren muss. Dabei wissen sie überhaupt nicht, dass das Heizen mit Strom in jedem Fall teurer sein wird als das Heizen mit Gas, und dass wir uns für den kommenden Winter wirklich keine Sorgen machen müssen, dass die Haushalte vom Gas abgeschnitten sein könnten. Aber da multipliziert sich eben die ohnehin schon sehr angespannte Lebenssituation, die eigene Krankheit, das eigene niedrige Einkommen mit dem, was man im Fernsehen oder im Radio nur mit halbem Ohr aufschnappt.
Da sind wir gerade als Caritas ganz besonders gefordert, hier gut aufzuklären, vor Ort in der Einzelberatung zu helfen und in der politischen Diskussion dazu beizutragen, dass keine irrationalen Ängste entstehen, die dann womöglich auch zu einer Spaltung der Gesellschaft führen, weil der eine dem anderen nicht mehr seine warme Wohnung gönnt. Das müssen wir verhindern. Deswegen sind die Energiearmut und der Klimaschutz Themen, die wir uns für die nächsten Monate ganz besonders auf die Agenda gesetzt haben.
Frage: Bei all den Themen, um die es da gerade geht – christlich gesprochen reden wir ja von der Nächstenliebe. Ein kirchlicher Begriff oder etwas altbacken vielleicht auch für das, was die Caritas da macht?
Welskop-Deffaa: Den altmodischen Begriff für das, was die Caritas tut, finden Sie in den alten Texten. Der hieß "Liebestätigkeit". Den finde ich deswegen so schön, weil er noch unmittelbarer als der Begriff "Nächstenliebe" deutlich macht, dass es beim Caritasverband um die tätige Hilfe geht. Nächstenliebe könnte ja auch verstanden werden als etwas, das auf der emotionalen Ebene stecken bleibt, wenn man den Begriff nicht theologisch gut genug kennt. Aber Liebestätigkeit, da hört auch der Nichttheologe, der Nichtchrist, die Nichtchristin sofort: Es geht um das Handeln, es geht um das Tätigsein und um das Tätigsein aus einer bestimmten Grundhaltung heraus, nämlich aus der Haltung der Liebe zum Nächsten, zu den Menschen heraus. Diese Grundhaltung zeichnet uns, glaube ich, als Caritasverband aus. Das ist auch das, was fasziniert.
Frage: Egal, ob es jetzt um Ihre Arbeit geht oder den Blick in die Zukunft. Sie sind ein sehr optimistischer Mensch und haben schonsehr viel Zuversicht ausgedrückt. Was bringt Ihnen jeden Tag aufs Neue Hoffnung?
Welskop-Deffaa: Es ist natürlich so, dass ich manchmal auch sorgenvoll in den jeweils einzelnen Tag blicke. Da würde ich jetzt gerade auch das Falsche ausstrahlen, wenn Sie denken würden, ich bin von morgens bis abends zuversichtlich. Ich sehe aber, dass wir in unseren Diensten und Einrichtungen so viele wunderbare Menschen beschäftigen und dass so viele Ehrenamtliche an unserer Arbeit mitwirken, die alle davon überzeugt sind, dass es sich lohnt, sich für den Zusammenhalt zu engagieren … sie setzen sich immer wieder neu für Menschen in Not ein.
Diese Erfahrung sagt mir: Da darf ich jetzt nicht mutlos werden, bloß weil mein Laptop gerade wieder spinnt oder bloß weil ich gerade so viele E-Mails habe, dass ich nicht genau weiß, wie ich die an einem Tag abgearbeitet kriege. Dann erscheint mir meine eigene Sorge eher kleinmütig. Das, glaube ich, müssen wir uns bewahren: Zukunftsmut. Zukunftsmut, um wirklich gestalten zu können und um wirklich die Herausforderungen bewältigen zu können. Wenn Sie so wollen, sage ich mir das jeden Morgen unter der Dusche oder beim Zähneputzen, und wenn ich dann gestiefelt und gespornt bin, habe ich auch wieder genau die richtige Grundhaltung, um die Herausforderungen des nächsten Tages zu bestehen.