"Verheißung und Verrat": Ein Kartäuser zum geistlichen Missbrauch
Der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche hat ihre Institutionen bis ins Mark erschüttert. Dabei ist nicht nur der sexuelle Missbrauch im Fokus, sondern auch der geistliche Missbrauch in Orden und Geistlichen Gemeinschaften.
Der Generalprior des Kartäuserordens, Dysmas de Lassus, hat nun auch in deutscher Sprache eine Analyse zum Thema vorgelegt. Diese weist über den engen Rahmen dieses innerkirchlichen Bereichs hinaus. Der ehemalige Novizenmeister benennt Gefahrenpotenziale, die Abhängigkeiten und Machtmissbrauch Vorschub leisten – und würdigt zugleich die Aspekte der Tradition der Orden, die dem vorbeugen können. Dennoch betrifft das Thema nicht nur Orden und Gemeinschaften, da die Vermischung von Amt und Charisma auch in anderen Bereiche in der Kirche zu beobachten ist, die anfällig für geistlichen Machtmissbrauch sind.
Diagnose der Risiken
Unvoreingenommen diagnostiziert de Lassus vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte die Risiken, die sich in verschiedenen spirituellen Richtungen ausgebildet haben und die nicht wenige Neugründungen betreffen, die nach dem 2. Vatikanischen Konzil unter progressivem wie konservativem Vorzeichen gegründet worden sind.
Eine Absage erteilt der wissenschaftliche Berater (Konsultor) der Ordens-Behörde im Vatikan einem "Kult der Einheit", der in den vergangenen Jahren nicht nur einzelnen Ordensgemeinschaften und geistlichen Bewegungen vorgeworfen wurde. De Lassus beschreibt eingehend die "Kultur der Lüge", die mit der "Kunst des Vertuschens und einem Verhalten, mit dem sie andere gezielt für sich einnehmen" einhergehe. Beides werde auch gegenüber Bischöfen oder Generaloberen eingesetzt, um die Wirklichkeit zu verschleiern. Innere Repression und ein Rechtfertigungsdruck nach außen, der die Wahrheit verstellt, werden als Nährboden sektiererischer Tendenzen beschrieben, wie sie auch in anderen soziologischen Kontexten auftreten können.
Linktipp: Sind Geistliche Gemeinschaften anfälliger für geistlichen Missbrauch?
"Totus tuus" oder die "Katholische Integrierte Gemeinde": Zuletzt standen einige Geistliche Gemeinschaften wegen geistlichen Missbrauchs im Fokus. Sind sie anfälliger dafür – und welche Faktoren könnten das begünstigen? Die Pastoraltheologin Maria Widl spricht darüber im katholisch.de-Interview.
Neuere Gemeinschaften sieht de Lassus gleichermaßen bedroht von einer "Institutionalisierung des Charismas". Nach dem 2. Vatikanischen Konzil sei Regeln in den großen Ordensgemeinschaften eine erhebliche Skepsis entgegengebracht worden wie generell der Institution, was Oberen, Gründergestalten oder Reformern weiten Spielraum einräumte. Die neue Würdigung der charismatischen Persönlichkeiten ging einher mit einem Misstrauen gegenüber der Institution – "verbunden mit dem impliziten oder expliziten Gedanken, dass die Institution gegen das Charisma sei", so der Kartäuser.
Damit fällt jedoch in der Hand des Oberen Charisma und eine ungeregelte Leitung zusammen. "Das Charisma ist zu einer Institution geworden. Man ist von einem Schema zu einem anderen übergegangen. Aus 'Diese Person steht an der Spitze, weil sie Trägerin des Heiligen Geistes ist' wurde 'Diese Person ist Trägerin des Heiligen Geistes, weil sie an der Spitze steht'." Die "Freiheit des Heiligen Geistes" laufe so Gefahr, zur Tyrannei zu werden.
Vertrauen nicht erzwingbar
Das Vertrauen, das Gott als einziger absolut verdiene, übertrage sich dabei auf den Oberen oder den geistlichen Führer. Das Gelübde des Vertrauens gegenüber dem Oberen könne damit zu einem Verzicht auf das eigene Urteilsvermögen und auf das eigene Gewissen führen. Doch Vertrauen berührt das Innere der Person und kann nicht erzwungen werden – das sei unmöglich, so de Lassus weiter.
Nicht nur Ordensleuten und geistlichen Begleitern kann die hier nur anhand weniger Aspekte vorgestellte Analyse von Dysmas de Lassus eine Hilfe sein, Strukturen des geistlichen Machtmissbrauchs aufzudecken, Abhängigkeiten vorzubeugen und die innere Freiheit von anvertrauten Gläubigen zu wahren. Die Kriterien des Kartäusermönchs können in ihrer Unvoreingenommenheit gegenüber theologisch oder kirchenpolitisch unterschiedlich orientierten Gruppen helfen, sich auch in anderen Wirklichkeiten der Kirche dem geistlichen Machtmissbrauch zu stellen. Das gilt zum einen für alle Bereiche, in denen die Wahrung der Freiheit des Gewissens zu beachten ist, zum Beispiel durch die Freiheit der Gläubigen bei der Wahl des Beichtvaters oder dadurch, dass niemals die Offenlegung des Gewissens gegenüber einem Oberen verlangt werden darf. Zum anderen auch dort, wo eine charismatisch motivierte Amtsausübung in Konkurrenz zur Autorität des Kirchenrechts und zu den Rechten des Einzelnen tritt.
Buchtipp
Dysmas de Lassus, Verheissung und Verrat. Geistlicher Machtmissbrauch in Orden und Gemeinschaften der katholischen Kirche, Aschendorff, Münster 2022, 336 Seiten, ISBN: 978-3-402-24822-5, 26,80 Euro.