Kasseler Kirche St. Kunigundis war Teil der Documenta

Pfarrer: Menschen haben durch Kunst über Religion nachgedacht

Veröffentlicht am 08.10.2022 um 11:50 Uhr – Lesedauer: 

Kassel ‐ Eine Kirche wurde bei der diesjährigen Documenta zur Bühne für die Kunst. Für Pfarrer Martin Gies war das Projekt ein Erfolg – auch, wenn es zur provokanten Kunst durchaus auch kritische Stimmen unter den Gläubigen gab.

  • Teilen:

Drei Jahre lang stand die Kirche St. Kunigundis im Kasseler Stadtteil Bettenhausen leer – dann kam die Kunst. Im Rahmen der internationalen Kunstschau Documenta wurden dort Werke haitianischer Künstlerinnen und Künstler ausgestellt. Martin Gies ist seit einem Jahr Pfarrer von St. Antonius, zu der auch die Kirche St. Kunigundis gehört. Im Interview spricht er über umstrittene Kunst und einen Neustart für die Kirche.

Frage: Wie ist es dazu gekommen, dass St. Kunigundis Documenta-Standort wurde?

Gies: Die Kirche stand drei Jahre leer. Eigentlich sollte sie renoviert werden, doch dabei stellte sich heraus, dass in die Betongewölbedecke aus den 1930er Jahren Feuchtigkeit eingedrungen war und sich dort Teile ablösten und herunterfallen konnten. Deshalb gab es einen Baustopp und die Kirche war jahrelang nicht begehbar. Als die Documenta ihre Planungen begonnen hat, kamen sie auch auf diese leerstehende Kirche – und wir waren bereit, den Raum für die Kunst zur Verfügung zu stellen. Die Documenta hat die Decke auf eigene Kosten mit einem Sicherungsnetz gesichert. Danach kam dann die Kunst in die Kirche. Wir haben uns von der Aktion Zukunftsperspektiven erhofft und dass die Kirche endlich wieder nutzbar wird.

Frage: Wie ist Ihr Fazit? Ist es gelungen, die Kirche nach dem langen Leerstand wieder mit Leben zu füllen?

Gies: Das war ein voller Erfolg. Es gab zwar schon Irritationen: Gläubige, die die Kirche von früher kannten, waren über Motive der Ausstellung entsetzt. Die haitianische Künstlergruppe Atis Rezistans setzt sich in ihren Skulpturen mit den Themen Leben und Tod auseinander. Dazu gehörten zum Teil sehr morbide Skulpturen aus Schrott und echten menschlichen Schädeln. Auf den ersten Blick konnte das für manche erschreckend wirken. Das steht aber nicht im Verhältnis zur großen Begeisterung, die damit ausgelöst wurde. Viele Besucher haben sich bedankt, dass die Kirche den Mut hat, ein Gotteshaus für so eine Ausstellung zu öffnen. Nicht zuletzt, weil es über die Kirche in den letzten Jahren viele Negativschlagzeilen gab. Auch bei den pfarrlichen Räten war man einhellig der Meinung, dass das ein positives Zeichen war.

Bild: ©katholisch.de/cph

Blick auf die Documenta-Ausstellung in St. Kunigundis in Kassel.

Frage: Die Motive der Künstler waren zum Teil sehr krass: Nicht zuletzt gab es Figuren mit alten Autoauspuffen als Penisse. Wird das der Würde des Raums gerecht?

Gies: Ich würde nicht sagen, dass es der Würde des Raumes nicht gerecht wird. Sicherlich sind das Darstellungsformen, die provozieren. Aber wenn es den Künstlern um Symbole für Lebenskraft geht, dann gehört der Penis dazu. Das ist von der Schöpfungsordnung her erstmal nichts Negatives. Ich würde nicht sagen, dass das nicht in einen religiösen Raum passen würde. Es ist eher ungewohnt. Ähnliches gilt für die Schädel: Wir haben in der katholischen Kirche eine lange Tradition der Reliquienverehrung. Der Schädel des heiligen Bonifatius liegt an Hochfesten auf dem Altar im Fuldaer Dom – der Unterschied ist nur der Goldrahmen. Es geht um die Auseinandersetzung mit dem Tod als fester Grenze des Lebens. Wir sollten das nicht verdrängen, denn wir hoffen auf die Auferstehung. Kirche und Glaube muss sich auch diesen provozierenden Themen stellen.

Frage: Die Künstlergruppe hat auch mit dem Kirchenraum gearbeitet und etwa den Altar in der Marienkapelle mit leuchtenden Skulpturen ergänzt. Hatten Sie da keine Angst, dass der Glaube lediglich zur Kulisse verkommt?

Gies: Ich sehe es genau andersherum. Auf der einen Seite waren die dort aufgestellten Skulpturen, auf der anderen Seite hingen dahinter die Votivtafeln, mit denen sich Menschen bei der heiligen Maria bedankt haben, etwa für Beistand oder Heilung. Für mich war das eine gelungene Verbindung. Wir hatten eine Zeit lang Opferlichter zum Entzünden dort aufgestellt. Die Nachfrage danach war dermaßen groß, dass wir mit den Lichtern nicht mehr nachgekommen sind, der Ständer war immer voll. Letztendlich war die Brandgefahr zu groß, sodass wir den Ständer wieder abgebaut haben. Für mich war das aber ein Signal: Menschen kommen aus der ganzen Welt wegen der Kunst in unsere Kirche – und nutzen diese Kapelle, um für sich eine Kerze anzuzünden und einen Gedanken zu senden. Es gab ein sehr großes Bedürfnis der Menschen, ein religiöses Zeichen zu setzen oder zu beten. In der Beobachtung der Besucher habe ich festgestellt, dass viele von ihnen christliche Motive fotografiert haben, also zum Beispiel die Kirchenfenster mit Heiligenmotiven oder die Mosaike im Altarraum. Es war also nicht so, dass der Raum zur Kulisse verkam, sondern die Menschen haben sich dadurch anregen lassen, über ihre eigenen religiösen Gefühle nachzudenken oder sich zu erinnern, wo sie herkommen.

Bild: ©katholisch.de/cph

Der ergänzte Marienaltar wechselte stetig die Farbe.

Frage: Wie sieht denn jetzt die Planung für die Zukunft aus?

Gies: Die Kirche soll nicht wieder ausschließlich religiös genutzt werden, dafür fehlen uns die finanziellen Mittel, sondern es soll eine Mischnutzung aus Ausstellungen, Konzerten und Gottesdiensten werden. Was auch immer wir da anstoßen, wird noch Jahre dauern. Immerhin brauchen wir noch einen Investor, um die Renovierung zu Ende führen zu können.

In der Übergangszeit bis dahin bleibt die Kirche begehbar, weil die Documenta uns das Sicherungsnetz überlässt. Der Raum kann also betreten werden. Wir wollen ihn nutzen, um alternative Gottesdienstformen zu erproben. Dabei geht es auch um niederschwellige Angebote. Denn immer mehr Menschen fremdeln mit der Höchstform, der Eucharistiefeier. Die Kirchenbänke werden nicht in den Raum zurückkehren, sondern wir werden mit einer mobilen Bestuhlung arbeiten. Es gibt also Platz für besondere Angebote von Wortgottesdiensten etwa für Familien, um das Interesse an religiösen Ritualen, Gemeinschaft und Gebet zu wecken. Wir haben dort viele kreative Möglichkeiten. Auch Ausstellungen werden dort möglich sein. Da war die Documenta eine große Hilfe: Die Kirche war im Zentrum der Aufmerksamkeit und wir haben auch schon einige Anfragen bekommen.

Frage: Wird ein Teil der Documenta-Kunst in der Kirche bleiben?

Gies: Das wird nicht möglich sein. Es gab zwar mal eine kurzfristige Anfrage für eine Übernahme, das hat sich dann allerdings nicht ergeben. Ich gehe nicht davon aus, dass Kunstwerke dort verbleiben. Wenn die Kirche geräumt ist, werden wir uns zusammensetzen und weitere Schritte planen. Das Interesse der Gemeindemitglieder ist sehr groß: Nach vielen Jahren ohne Kirche ist die Begeisterung groß, dass die Kirche durch diese Ausstellung – bei aller Kritik – wieder ihre Bedeutung gewonnen hat und nicht mehr nur Baustelle ist. Die Menschen warten sehnsüchtig darauf, dass wir dort nach der Documenta wieder Gottesdienste feiern.

Von Christoph Paul Hartmann