Gründer der Bewegung Comunione e Liberazione wurde vor 100 Jahren geboren

Luigi Giussani: "Leidenschaft für den Menschen" als Christentums-Kern

Veröffentlicht am 15.10.2022 um 12:29 Uhr – Lesedauer: 

Rom ‐ Eine Sehnsucht nach Erfüllung und Glück tragen die allermeisten Menschen in sich: Das war die Überzeugung des Gründers der Bewegung Comunione e Liberazione, Luigi Giussani. An diesem Samstag wäre er 100 Jahre alt geworden.

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Das medienwirksamste Vermächtnis des Gründers der katholischen Gemeinschaft "Comunione e Liberazione" (CL) (auf deutsch: Gemeinschaft und Befreiung) dürfte das alljährliche "Meeting" in Rimini sein. Zu seinem 100. Geburtstag stand es in diesem Jahr unter dem Motto "Eine Leidenschaft für den Menschen". Genau dies war für den Gründer Luigi Giussani der Kern des Christentums. "Es entstand nicht, um eine Religion zu gründen, sondern aus Leidenschaft für den Menschen", so Giussani.

Auf dem "Katholikentag von Rimini" gab es diesmal die einzige Diskussionsrunde, an der alle italienischen Parteiführer im diesjährigen Wahlkampf teilnahmen. Und es gab Ausstellungen über die Initiative Memorial, die Bedeutung der Bildgebung in den Wissenschaften, den portugiesischen Schriftsteller Fernando Pessoa oder den Maler Renato Guttuso, Theateraufführungen und Konzerte. Der am 15. Oktober 1922 in Desio bei Mailand geborene Lombarde Gussiani war in Rimini mit Eloquenz und Humor oft selbst auf dem Podium; aus der Grundüberzeugung, dass Christus mit allen Aspekten des Lebens zu tun hat.

Glauben mit Erfahrung vergleichen

Aus diesem Bewusstsein entstand Mitte der 1950er Jahre das, was später die kirchliche Bewegung Comunione e Liberazione werden sollte. In einer Zeit mit vollen Kirchen, in der Katholiken selbstredend christdemokratisch wählten, sah der junge Priester Giussani bereits tiefe Risse im Fundament der Kirche. Gerade bei der Jugend zeigte sich ihm eine innere Entfremdung zwischen Glauben und Leben, Tradition und vorherrschender Mentalität; das Christentum drohe im Moralismus zu erstarren. So bat er um seine Versetzung von der Dozentenstelle im Priesterseminar an das Mailänder Berchet-Gymnasium.

Als Pädagoge beharrte er auf der Notwendigkeit, den Glauben mit der Erfahrung zu vergleichen. Nur so sei eine freie und verantwortete Zustimmung möglich. Konservative witterten hier Subjektivismus. Giussani ließ sich hingegen von der Überzeugung leiten, dass selbst der größte Individualist – wenn er aufrichtig ist – eine tiefe Sehnsucht nach Glück, Erfüllung, Unendlichkeit in seinem Innersten wahrnehme. Als Jugendlicher hatte er dies in den Gedichten Giacomo Leopardis entdeckt. Dafür prägte er später den Begriff vom "religiösen Sinn". Diese Erfahrung wurde zum Anknüpfungspunkt für viele ökumenische und interreligiöse Beziehungen.

„Am Ursprung des Christentums steht keine Idee, Lehre oder Ansammlung von Geboten, sondern ein Mensch.“

—  Zitat: Luigi Giussani

Auf eben diese Sehnsucht nach Erfüllung antworte Christus, so Giussanis Erkenntnis. Deshalb wollte er das Christentums wieder als gegenwärtiges Ereignis der Menschwerdung Gottes verständlich und plausibel machen. Er selbst war Zeit seines Lebens tief ergriffen von diesem "völlig unvorhersehbaren" wie "befreienden" Geschenk Gottes in Christus: "Das heißt, die Schönheit, die Gerechtigkeit, die Liebe, das Leben, die Wahrheit sind Fleisch geworden"; anders gesagt: "Am Ursprung des Christentums steht keine Idee, Lehre oder Ansammlung von Geboten, sondern ein Mensch."

Der existenzielle Zugang zum Glauben, jenseits moralisierender Appelle oder klerikaler Selbstbefassung, fasziniert offenbar besonders junge Menschen. Inzwischen gehören CL weit über 100.000 Menschen in 90 Ländern an - wobei eine genaue Zahl aufgrund der freien Zugehörigkeit schwierig zu ermitteln ist. Gemeinschaften gibt es unter anderem in Rio de Janeiro, Taipeh, Wien oder New York. Die größte Verbreitung hat CL in Italien, Spanien und Lateinamerika. In Deutschland ist sie vor allem in Bayern, Baden-Württemberg und im Rheinland präsent.

Viele Initiativen

Giussani wollte selbst nie eine Bewegung gründen, sondern die Teilnahme an einem lebendigen kirchlichen Leben ermöglichen. Das klingt paradox, entspricht aber der Überzeugung vom Ereignischarakter der Kirche. Aus dieser Erfahrung entstanden zahlreiche Initiativen nicht als Projekte, sondern als persönlich verantwortete und gemeinschaftlich getragene Antwort auf konkrete Nöte.

Das gilt etwa für die Vereinigung zur Aufnahme von Menschen mit Behinderung in Familien; eine Initiative zur Selbstverwaltung Gefangener in Perugia; Projekte für Landlose in Brasilien; Anlaufpunkte für aidskranke Frauen in Uganda oder Hilfen für kranke ältere Menschen in der Ukraine und in Russland.

Zu den größeren Initiativen gehören die Compania delle Opere, ein Verband für Unternehmer und gemeinnützige Organisationen, und die Entwicklungshilfeorganisation AVSI mit ihrem deutschen Ableger Support International. Besonderen Wert legt CL auf Bildung und Erziehung. Es gibt Schüler- und Jugendgruppen, Studenten- und Lehrervereinigungen.

Grab von Luigi Giussani
Bild: ©KNA

Das gläserne Grabmal von Luigi Giussani befindet sich auf dem Prominentenfriedhof "Cimitero Monumentale" in Mailand.

Wer das Angebot für sich als verbindlich ansieht, kann der Fraternität beitreten – mit derzeit rund 60.000 Mitgliedern weltweit. Dazu gehören die Teilnahme am "Seminar der Gemeinschaft", das dem Austausch der Glaubenserfahrung und der Katechese dient; ein frei gewählter karitativer Einsatz sowie kulturelle Initiativen.

Seit den Anfängen gab es auch Personen, die das "Gedächtnis Christi" im Arbeitsalltag durch Armut, Keuschheit und Gehorsam leben wollen. Diese "Memores Domini" zählen rund 4.000 Mitglieder, in manchem ähneln sie einer Ordensgemeinschaft. Eine Gruppe von ihnen betreut Ex-Papst Benedikt XVI. im Vatikan. Aus CL entstanden auch die "Priesterbruderschaft des Heiligen Karl Borromäus" mit derzeit weltweit 160 Priestern sowie eine Gemeinschaft von Ordensfrauen, die sich ähnlich den Schwestern von Mutter Teresa dem Gebet und Armen und Bedürftigen widmen.

Seligsprechungsverfahren 2012 eröffnet

Für Giussani, der am 22. Februar 2005 in Mailand verstarb, wurde 2012 wurde ein Seligsprechungsverfahren eröffnet. Sein erster Nachfolger, der spanische Theologe Julian Carron, trat im vergangenen Jahr nach 16 Jahren an der Spitze von CL zurück. Der Vatikan hatte zuvor per Dekret alle Leiter geistlicher Gemeinschaften zu einer Amtszeitbegrenzung verpflichtet und transparente Strukturen verlangt. Die unter Carron begonnene Reform der Statuten wird unter seinem Nachfolger, dem Chemieprofessor Davide Prosperi, fortgeführt.

Papst Franziskus liegen die "CLer" offenbar am Herzen: Für diesen Samstag hat er sie aus Anlass des 100. Geburtstags ihres Gründers auf den Petersplatz zur Audienz eingeladen.

Von Christoph Scholz (KNA)