Opfer-Netzwerk veröffentlicht Liste mit Beschuldigten

Debatte um Missbrauchsaufarbeitung in Erzdiözese San Francisco

Veröffentlicht am 17.10.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

San Francisco ‐ Fast alle US-Diözesen haben die Namen glaubhaft beschuldigter Missbrauchspriester offengelegt. Nicht so San Francisco. Beobachter werfen Erzbischof Salvatore Cordileone Verschleppungstaktik vor. Jetzt hat ein Opfer-Netzwerk eine Liste präsentiert.

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Salvatore Cordileone versteht sich als Anwalt für das ungeborene Leben, aber auch für das Kindeswohl in nicht traditionellen Lebensgemeinschaften. Zu viele Kinder würden "durch die zunehmende Unfähigkeit unserer Kultur verletzt, zu erkennen, wie wichtig es ist, Mütter und Väter für Kinder in einem liebevollen Zuhause zusammenzubringen", mahnt der Erzbischof von San Francisco, der als einer der Wortführer in der US-Bischofskonferenz gilt.

Weniger Dringlichkeit legt er an den Tag, wenn es darum geht, Priester seiner Erzdiözese zur Rechenschaft zu ziehen, denen sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige vorgeworfen wird. Cordileone ist der einzige Bischof in Kalifornien, der der Öffentlichkeit noch keine Dokumentation über glaubhaft beschuldigte Priester vorgelegt hat. Auch USA-weit befindet er sich im Hintertreffen: Laut dem Netzwerk der Missbrauchsopfer von Priestern, SNAP, ist bislang von etwa zehn Prozent der rund 200 US-Bistümer nichts gekommen – und San Francisco ist davon die mit Abstand größte Diözese.

"Hässliche" Details

Das Erzbistum sieht bisher keine Veranlassung, eine Liste zu veröffentlichen, weil sie, so die offizielle Begründung, Anschuldigungen an die zuständigen Behörden und einen unabhängigen Untersuchungsausschuss weitermelde. Nun wurde SNAP selbst aktiv: Anwälte der Organisation präsentierten eine Liste, auf der 312 Priester stehen, die des Missbrauchs beschuldigt werden. Das Dokument umfasse die gesamte Bandbreite sexueller Übergriffe, sagte SNAP-Aktivist Dan McNevin, der selbst Missbrauch erlebt hat. Die Details seien "hässlich". Es habe Fälle gegeben, in denen sich Priester "Opfer teilten".

SNAP beruft sich in seiner Recherche auf Gerichtsakten, kirchliche Dokumente und Interviews mit Betroffenen. Auf der Liste stehen drei Priester, die weiterhin in der Bay Area von San Francisco aktiv sind. Die Anschuldigungen gegen sie hätten sich als haltlos erwiesen, teilte die Erzdiözese mit. Sie seien nach vorübergehender Beurlaubung wieder zurück im Dienst.

Die große Mehrzahl der Missbrauchsfälle auf der SNAP-Liste liegt Jahre zurück. Die Betroffenen leben demnach oft seit Jahrzehnten mit ihrem Trauma. Wenn sie die Kraft finden, ihr Leid zu melden, sind die mutmaßlichen Täter oft bereits im Ruhestand oder gestorben.

Ein Kreuz mit US-Flagge
Bild: ©picture alliance/ZUMA Press/Jerry Mennenga (Symbolbild)

Laut der Opfer-Initiative SNAP gibt es bislang von etwa zehn Prozent der rund 200 US-Bistümer keine Dokumentation über glaubhaft beschuldigte Priester – San Francisco ist davon die mit Abstand größte Diözese.

Doch die Ansprüche der Betroffenen bleiben. Der SNAP-Direktor von Nordkalifornien, Joey Piscitelli, vermutet daher, dass es Cordileone um die Verhinderung von Schadenersatzklagen gegenüber der Erzdiözese geht. Die Intransparenz sei Teil einer Verschleppungstaktik. Betroffene von Missbrauch in Kalifornien haben bis Jahresende Zeit, sich zu melden. Bis dahin sind nach der verlängerten Verjährungsfrist auch Zivilklagen möglich.

Im Mai hatte Cordileone erfolglos versucht, vor dem Obersten Gericht des Bundesstaats den "California Child Victims Act" von 2019 zu kippen, der den Betroffenen sexueller Übergriffe zusätzliche Zeit dafür einräumt, gegen Täter vorzugehen. Dies sei ein "feiger Versuch" gewesen, "Opfer davon abzuhalten, Gerechtigkeit zu suchen", so Opfer-Anwalt Jeff Anderson.

Schutz vor weiteren Schadensersatz?

Der Erzbischof versuche alles, um seine Erzdiözese vor weiteren Schadenersatzzahlungen zu schützen, spekuliert der "San Francisco Chronicle" über die Motive Cordileones. Bis 2018 hatte die Erzdiözese eigenen Angaben zufolge rund 87 Millionen Dollar Entschädigungen ausgezahlt.

SNAP-Aktivist McNevin hat nach eigenen Angaben alle vorliegenden Missbrauchslisten in Kalifornien geprüft. Nicht ein einziges Mal hätten diese den Recherchen des Netzwerks entsprochen: "Unsere waren immer länger", lautet sein Fazit. Was Cordileone in San Francisco mache, gehe jedoch darüber hinaus; es sei "ein einziger Prozess des Reinwaschens".

Unter Beobachtern steht noch ein anderer Verdacht im Raum. Cordileone könnte mit seiner Weigerung darauf abzielen, sich vor der Wahl des Vorsitzenden der US-Bischofskonferenz Mitte November als unerschrockener Verteidiger der Kirche zu profilieren. Der Erzbischof gehört zu den zehn Kandidaten, die sich um die Nachfolge des bisherigen Vorsitzenden Erzbischof Jose Gomez beworben haben.

Von Thomas Spang (KNA)