Klerikaler Narzissmus ist der Grundbaustein für geistlichen Missbrauch
Wie kommt es zu geistlichem Missbrauch in der Kirche? Dieser Frage widmet sich der Psychiater Martin Flesch in seinem Buch "Die Betroffenen", in dem er "seelische Leidensräume in der katholischen Kirche" beschreibt und analysiert. Er ist überzeugt: Hinter der Ausnutzung von seelsorglichen Beziehungen, hinter Verletzungen und Leiden steckt ein System, das Täterpersönlichkeiten anzieht und begünstigt. Im katholisch.de-Interview erläutert der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, wo Verantwortliche für die Priesterausbildung ansetzen müssen, um Klerikalismus zu überwinden.
Frage: Herr Flesch, Narzissmus ist für Sie ein Schlüsselwort. Sie schreiben, dass missbräuchliche Strukturen aus narzisstischen Konstellationen und Konflikten entstehen. Warum ist der Narzissmus so zentral für die Deutung von geistlichem Missbrauch?
Flesch: Narzissmus ist ein Grundbaustein für missbräuchliche Strukturen und nur eine Voraussetzung für den sich hartnäckig haltenden Klerikalismus. Es ist ein kirchliches Phänomen, dass Menschen auf die Stühle der Macht steigen, um dem eigenen Gefühl von Unzulänglichkeit zu entkommen, als "normaler" Mensch nichts zu bedeuten oder nichts zu sein. Psychologische Defizite sollen dadurch kompensiert werden, dass der eigene Wirkungsbereich durch Macht und Einfluss angereichert wird. Deshalb landen wir immer wieder bei narzisstischen Strukturen, denen wir uns stellen müssen, wenn wir missbräuchliche Strukturen auch präventiv angehen wollen.
Frage: Die Kritik an einem überhöhten Priesterbild ist nicht neu.
Flesch: Ich habe diese Erkenntnisse natürlich nicht erfunden. Ältere Feststellungen kann man auf profunder Basis auch bei anderen fachlich geschulten Autoren vorfinden, wie beispielsweise bei Eugen Drewermann ("Kleriker" aus dem Jahr 1989). Es sind keine Theorien oder Hypothesen, die ich mir aus dem Kopf gezogen oder abgeschrieben habe. Der Befund wurde mir zuallererst durch meine praktische Tätigkeit im konkreten Fall bestätigt, und daraus habe ich dann diese Hypothesen abgeleitet und belegt. Was Drewermann vor über 30 Jahren festgestellt hat, ist immer noch aktuell und in der Praxis nachweisbar.
Frage: Wie zeigt sich das in Ihrer Arbeit?
Flesch: Bei Klerikern und Ordensleuten, die den Weg in meine Praxis finden, finde ich immer wieder ähnliche inhaltliche Mitteilungen und phänomenologische Darstellungen. Oft gab es bei ihnen schon in sehr jungen Jahren eine Faszination für das Religiöse. Viele sagen, die Berufung war und ist für sie der einzig gangbare Weg, ohne Alternative-beispielsweise auf Basis eines sogenannten "Auserwähltseins" die Legimitation zum Priesterberuf ableiten zu können. Die Berufung wird als sicherer Ort gesehen, der Schutz und Sicherheit gibt, aber auch als Tausch von Rolle und Leben erlebt wurde. Viele, die ein gewisses Maß an Introspektion besitzen, sehen, dass sie Berufung als Kompensation von persönlichen Defiziten gesehen haben. Was aber allen gemeinsam zu sein scheint, wenn man sie nur lange genug begleitet, ist die Angst vor der Selbstkonfrontation mit der eigenen Sexualität, Beziehungsfähigkeit und Freiheit zum Zeitpunkt der Entscheidung für die Berufung.
Frage: Sprechen wir gerade über Priester als potenzielle Täter oder Priester, die in diesen Formen selbst Betroffene geistlichen Missbrauchs sind?
Flesch: Bevor wir überhaupt über Täterstrukturen sprechen können, sind diese Persönlichkeiten fast ausnahmslos alle zunächst Betroffene: Sie befinden sich in der spannungsgeladenen und konfliktreichen Situation, mit eigenen Unzulänglichkeiten zurechtkommen zu müssen, die ihnen die Integration von Persönlichkeitsdefiziten kaum ermöglichen. Man spricht von einer Identitätsaufspaltung, weil viele eigentlich gar nicht wissen, wer sie eigentlich selbst sind. Auf dieser Basis entsteht dann das Potential und das zunächst noch diffuse Vakuum für den später möglicherweise begangenen Missbrauch.
Frage: Priesterkandidaten werden immer älter. Kaum einer tritt direkt nach dem Seminar an, die meisten haben ein Leben und einen Beruf vor dem Eintritt ins Seminar. Wird die Problematik schon durch diese zunehmende Lebenserfahrung von Neupriestern gemildert?
Flesch: Das kann sein, muss es aber nicht. Die Frage ist doch: Wie ist die Zeit bis zum Zeitpunkt der Berufung genutzt worden? Es bringt wenig, wenn ich mich zehn Jahre später als bisher im Durchschnitt üblich für den Priesterberuf oder ein Ordensleben entscheide, wenn ich in diesen zehn Jahren immer noch den Reifestand habe, den ich mit 18 oder 20 Jahren hatte. Wenn ich im Rahmen der Suche nach dem für mich passenden Lebensweg Chancen nicht genutzt habe, um mich persönlich weiterzuentwickeln, gibt es dieselben Probleme auch bei älteren Kandidaten. Auch für sie stellen sich ja immer auch die Fragen zur Integration der eigenen Sexualität, der sexuellen Orientierung, der Beziehungsfähigkeit und der Fähigkeit zur freien und persönlichen Lebensgestaltung, die sich Jüngeren stellen.
Frage: Und wie kann man dem in der Priesterausbildung begegnen?
Flesch: Im Moment krankt die Ausbildung daran, dass es überwiegend eine Funktionalisierung des Priesteramtes gibt, das führt zu einem Missverhältnis zwischen Person und Amt. Stattdessen wäre es wichtig, der Subjektivität Raum und Entfaltung zu ermöglichen. Letztendlich heißt das: Wir brauchen dringend eine Versöhnung von Amt und Person. Der Glaube als Vollzug der menschlichen Existenz und der Lebenswirklichkeit des einzelnen Menschen muss in den Vordergrund rücken. Das heißt ganz praktisch für die Priesterausbildung, dass wir dringend ausreichende Zeiträume und auch Module brauchen für die Selbstbegegnung, für die Persönlichkeitsreifung und vor allem für die Selbsterfahrung. Ohne diese Voraussetzungen ist meines Erachtens keine mit sich selbst versöhnte Priesterpersönlichkeit möglich..
Frage: Nehmen Sie bei den Bischöfen, also den Letztverantwortlichen für die Priesterausbildung in ihren Diözesen, eine Bereitschaft zu solchen Veränderungen wahr?
Flesch: Zumindest zum Teil sehe ich durchaus die Bereitschaft, sich diesen Fragen zu stellen und auch Veränderungen in diese Richtung vorzunehmen. Es wird auf keinen Fall reichen, nur einzelne Module in der Priesterausbildung zu ändern, ohne deutliche Veränderungen im klerikalen System vorzunehmen. Aber natürlich sind auch Bischöfe selbst Teil dieses Systems und eingebunden in Strukturen des Klerikalismus. Das macht es schwer, das System zu reformieren und zu überwinden. Fehlen die notwendigen Voraussetzungen zur Einsicht, wird die Wirklichkeit des Psychischen hinter dem Sichtbaren nicht erkannt, insbesondere besteht keine Introspektionsfähigkeit in die Doppelbödigkeit des klerikalen Systems.
Frage: In Ihrem Buch haben Sie den Betroffenen eine Stimme gegeben und beklagen, dass es bei der Aufarbeitung daran mangelt, dass ihnen zu wenig zugehört wird.
Flesch: Die gleichen Strukturen, die den Missbrauch ermöglicht haben, sind auch dafür verantwortlich, dass Betroffenen nach dem Missbrauch nicht adäquat zugehört wird. Solange ich als Kleriker selbst keinen Einblick in diese Strukturen habe und mir auch nicht die Frage stelle, inwieweit das auch mit meiner eigenen Persönlichkeit zu tun hat, werde ich in der Kommunikation mit den Betroffenen nicht das erforderliche Maß an Sensibilität aufbringen können. Zahlreiche von mir begleitete Priester und Ordensangehörigen oder auch MitarbeiterInnen im kirchlichen Dienst beklagen immer wieder die emotionale Kälte und die Beziehungsunfähigkeit, die sie in ihrer Kommunikation mit der Bistums- und Ordensleitung erfahren müssen.
Frage: In den verschiedenen Aufarbeitungsstudien liest man immer wieder, dass Bischöfe und Personalverantwortliche überfordert waren im Umgang mit der Kommunikation mit Betroffenen. Brauchen Verantwortliche in der Kirche also eigentlich zuerst selbst eine Therapie?
Flesch: Das würde ich sicherlich in Einzelfällen deutlich bejahen. Es zeigt sich mit erschreckender Regelhaftigkeit, dass genau diese Persönlichkeiten, die auf der Basis ihrer emotionalen und strukturellen Unzulänglichkeit den Weg der Berufung beschreiten, quasi wie ein Schlüssel ins Schloss in die übergeordneten klerikalen Strukturen hineinpassen – weil natürlich die Funktionalisierung des Amtes die einzelnen Betroffenen auch davor bewahrt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich den eigenen Unzulänglichkeiten zu stellen. Solange die Bereitschaft fehlt, sowohl narzisstische als auch machtorientierte Strukturen zu hinterfragen und sich auf eine völlig machtlose, seelsorgerlich orientierte Position zu begeben, gibt es keine Chance auf Änderung. Auch klerikale Amtspersonen in Führungspositionen können selbstredend ihre MitarbeiterInnen nur soweit adäquat begleiten, wie sie selbst im Rahmen ihrer eigenen Selbsterfahrung gegangen sind.
Frage: Gibt es dann überhaupt noch Hoffnung für die Kirche und für die Betroffenen geistlichen Missbrauchs?
Flesch: Für die Betroffenen individuell gibt es immer die Chance, durch therapeutische Begleitung wieder ein gewisses Maß an Stabilität und Lebensqualität zu gewinnen, abhängig vom Grad der Traumatisierung. Ich habe aber auch Hoffnung für die Kirche als Ganzes, wenn sie sich darauf konzentriert, die eigentliche zentrale Botschaft Jesu zu leben und umzusetzen. Bei dieser Botschaft ging es nie um Strukturen von Macht, Einfluss und Klerikalismus. Es ging immer nur um Vermittlung von Selbstannahme auf der Basis von Persönlichkeitsentfaltung, um auf dieser Basis dann befähigt zu sein, Barmherzigkeit zu leben und umzusetzen. Das ist die Hoffnung für die Kirche.