Zwischen Pragmatismus und Symbolik

Ein Schlüssellochblick in Gärten der mittelalterlichen Klöster

Veröffentlicht am 03.12.2022 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Klostergärten dienten vor allem der wirtschaftlichen Versorgung und Absicherung der Mönche und Nonnen. Zugleich entwickelten sie sich zu einer Quelle für Heilkräuter – aber auch als Ort der Meditation. Daraus erwuchs eine besondere Form der Marienfrömmigkeit.

  • Teilen:

Im 7. Jahrhundert taucht in der abendländischen Klosterlandschaft ein Text auf, der bis zum 9. Jahrhundert zu einer der einflussreichsten Schriften der westeuropäischen Klostergeschichte werden sollte: Die Regula Sancti Benedicti Abbatis (kurz RB), die Klosterregel des historisch nicht wirklich fassbaren Abtes Benedikt. Dieser sowohl spirituelle als auch pragmatische Text prägte die fränkische Klosterlandschaft vom 9. bis 11./12. Jahrhundert.

In der Benediktsregel wird der Garten (hortus) nur beiläufig neben anderen Orten und Tätigkeiten im Kloster an drei Stellen erwähnt. Die wichtigste darunter: Das Kloster soll, wenn möglich, so angelegt werden, dass sich alles Notwendige, nämlich Wasser, Mühle und Garten, innerhalb des Klosters befindet und die verschiedenen Arten des Handwerks dort ausgeübt werden können (RB 66,6, vgl.7,63; 46,1). Offenbar gehört er bereits zur Entstehungszeit der Regel zu den selbstverständlichen, weil notwendigen (necessaria) Klosterbereichen, die die Versorgung der Klostergemeinschaft sichern. Leider erfahren wir nichts über die Gestaltung des Gartens und seine Bepflanzung. Die ältesten konkreteren Quellen stammen erst aus dem 8. bzw. 9. Jahrhundert Immer wieder wird in diesem Zusammenhang der St. Galler Klosterplan angeführt. Diese Pergamenthandschrift entstand vermutlich zwischen 819 und 826 im Kloster Reichenau (Bodensee) und befindet sich heute im Besitz der Stiftsbibliothek St. Gallen (Schweiz). Der Plan zeigt die idealtypische Anlage eines Benediktinerklosters, die in Gänze nie verwirklicht wurde. Bis ins 17. Jahrhundert wurde er aber für Klosteranlagen als Vorbild herangezogen, auch für die Gestaltung von Gärten. Mithilfe beigefügter Beschriftungen sind der zentrale Kreuzgarten, ein Gemüsegarten (hortus), ein Obstgarten (pomarius), der zugleich als Friedhof diente, sowie ein Arzneigarten (herbularius) zu erkennen. Die Gärten sind rechteckig angelegt, ihre Beete symmetrisch um einen Weg als Mittelachse bzw. ein Zentrum herum geordnet.

Die Schöpfung Gottes: raue Wildnis und kultivierter Lebensraum

Die konsequent in Rechtecken angelegte Grundgestaltung erfüllt zunächst einen ganz praktischen Zweck: Die Beete können bequem gepflegt werden, darüber hinaus beugt sie vor allem im Arzneigarten Verwechslungen vor. Wie Gärten gestaltet sind, hängt aber auch stets damit zusammen, wie die Natur verstanden wird. In der Klosterkultur ist die Natur Schöpfung Gottes. Sie ist üppig, schön und gut, droht jedoch zur rauen Wildnis zu werden, wenn sie nicht gehegt wird. Dieses heute wenig gebräuchliche Wort bedeutet ursprünglich "mit einem Zaun, einer Hecke umgeben", dann auch "schonen, pflegen, hegen, bewahren, bändigen". Wie nach der Erzählung der Bibel in Gen 2,4b–16 Gott in der wüsten und lebensfeindlichen "Natur" für den Menschen einen üppigen Baumgarten als Lebensraum anlegt und diesen den Menschen zur weiteren Pflege (V. 15) anvertraut, so sieht sich auch der mittelalterliche Mensch vor der Aufgabe, die gefährliche Wildnis zu kultivieren. Im um das Jahr 840 entstandenen "Liber de cultura hortorum" des Reichenauer Abtes Walafrid ist zu lesen, wie ein Garten angelegt wird: "Nesseln [haben] den Raum überwuchert, der vor meiner Türe […] / Und auf den Flächen des Feldchen ist übles Unkraut gewachsen, / Pfeilen vergleichbar, verderblich bestrichen mit ätzendem Gifte. / […] Ungesäumt greife ich an mit dem Karst, […] breche das leblos starrende Erdreich / Auf und zerreiße die Schlingen der regellos wuchernden Nesseln."

Im gleichen Kontext wie der Klosterplan verfasst, kann dieses aus insgesamt 444 Versen bestehende Gedicht ergänzend zum Klosterplan gelesen werden. Mit dem Anlegen eines Gartens dehnt der Mensch den Lebensraum in das unkultivierte Land hinein aus. In Metaphern von Angriff und Kampf wird die Bearbeitung des Bodens wie die Eroberung einer feindlichen Burg beschrieben. Ohne Kultivierung wuchern die Pflanzen wild. Erst mit ihrer Zähmung wird der Boden zu etwas Lebengebendem, indem er das Wachstum einer Vielzahl von Pflanzen fördert. Der in der Schöpfungserzählung Gen 1,1–2,4a ausbuchstabierte Gedanke, dass Schöpfung Ordnung und (Unter-)Scheidung bedeutet, wird im Garten dadurch realisiert, dass jede Art ihren optimalen Platz bekommt. Die klare Ordnung wird so zum idealen Abbild der gesamten Schöpfung. Dieser Gedanke wird in der gewissen Vorliebe für die Zahl Vier deutlich. Sie gilt in der christlichen Symbolik als die materielle Ordnungszahl. In der Bibel steht sie für die vier Himmelsrichtungen und damit die ganze Erde (Mt 24,31; Offb 7,1). Aus der Antike kannte man die Grundelemente Erde, Wasser, Luft und Feuer und die vier "Säfte", die den Gesundheitszustand des Menschen bestimmen. Weitere Tetraden entdeckte man in den Tages- und Jahreszeiten, den Mondphasen und anderen mehr. Mit der Vier schien die Mannigfaltigkeit in der Natur ordenbar.

Wandgemälde der heiligen Hildegard von Bingen
Bild: ©KNA/Julia Steinbrecht

Die Benediktinerin Hildegard von Bingen verband in ihrer Medizin antike Überlieferungen mit mittelalterlichen Vorstellungen.

Der Grundsatz in der Regel Benedikts, "[d]ie Sorge für die Kranken muss vor und über allem stehen" (36,1); führte in den Klöstern zu einer Beschäftigung mit der Heilkunde. Dafür wurde das medizinische Wissen der griechisch-römischen Welt rezipiert und weiterentwickelt. Um den Grundbedarf zu sichern, führt der St. Galler Klosterplan 16 Arzneipflanzen an. Genannt werden z. B. Salbei, Weinraute und Minze, jedoch auch Rose und Madonnen-Lilie. Letztere irritieren aus heutiger Sicht. Das mittelalterliche Pflanzenverständnis beruht auf antikem Gedankengut, das um christliche Aspekte erweitert wurde. Zum einen begründete man die Wirkweise der Pflanzen nach Grundeigenschaften warm-kalt, trocken-feucht mit ihren entsprechenden Einflüssen auf das Säftesystem, zum anderen verstand man sie als Verweise auf eine tiefere Wirklichkeit.

Die Benediktinerin Hildegard von Bingen (1098-1179) beschreibt in der 3. Vision ihres Buches "Vom Wirken Gottes" das Eingebundensein der vier Körpersäfte Schwarzgalle, Schleim, Blut und Gelbgalle in die Dynamik der kosmischen Elemente. Krankheiten resultieren aus der "unnatürlichen Erregung" der Säfte durch schlechten, nicht tugendgemäßem Lebenswandel. Demzufolge wird in der Klostermedizin auf zweifache Weise gegen Krankheiten vorgegangen: einmal physisch zum Beispiel durch Verabreichung bestimmter Heilpflanzen, die das Säftesystem ausgleichen. Beispielsweise kurierte man eine Erkältung, der ein Überschuss von "kaltem" und "feuchten" Schleim zugrunde liegt mit Arzneien von "warmer" und "trockener" Qualität. Zum anderen seelsorglich durch Anleitung zur guten Lebensführung gemäß der Schöpfung und Gottes Geboten. Anleitung zum tugendhaften Leben gibt die Heilige Schrift, aber eben auch die Natur selbst. So interpretiert Hans-Dieter Stoffler, Professor für Waldbaugrundlagen, die Anlage des Arzneigartens als Weg von der Heilung zum Heil: Wer den Garten betritt, passiert zunächst die Arzneipflanzen, allen voran Salbei und Raute als die Wirkungsvollsten, und blickt dann auf Madonnen-Lilie und Rose als Zeichen des Glaubens und Bekenntnisses, wie sie Christus vorgelebt hat (vgl. De cult. hort. 415-418; 425-428). Der Weg durch den Garten wird so zum Bild des Lebensweges. Der entscheidende Orientierungspunkt ist Christus und sein Leben aus Glauben und Bekenntnis.

Bild: ©gemeinfrei

Stefan Lochners "Madonna im Rosenhag" steckt voller Symbole.

Einen deutlichen Bezug zum endgültigen Heil des menschlichen Daseins, dem ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott, hat der Friedhof. Wie der Garten Eden ist er unter anderem mit Feige und Pfirsich als köstlich-exotischer Obstgarten angelegt (vgl. Gen 2,9). Als "Baum des Lebens" steht in seiner Mitte ein großes Kreuz. "Unter diesen Hölzern ist allein das Kreuz das heiligste. An ihm duften die Früchte des ewigen Heils. Um es herum sollen die Leiber der Toten liegen und durch sein Strahlen das Reich des Himmels empfangen" heißt es in der Beschriftung des Klosterplans. Der Garten ist somit nicht nur ein Andenken an das durch die Sünde des ersten Menschenpaares verlorene Paradies, sondern auch auf die erhoffte Auferstehung der in Christus Verstorbenen (vgl. Röm 6) und ein Leben im wiederhergestellten Paradies.

Die Klostergärten waren somit Orte der die Schöpfung mitgestaltenden Arbeit, der Heilung und religiösen Betrachtung, aber auch Orte der Erholung, wenn sich Augen und Nase an Farben und Düften erfreuen (vgl. De cult. hort. 432-434). In der Mitte des 13. Jahrhundert beschreibt der Dominikanergelehrte Albertus Magnus (um 1200-1280) in seinem Buch "Über die Pflanzen" Gärten, die "für das Vergnügen eingerichtet sind" und "die man Viridantia oder Viridaria nennt" (De veg. VII, I, XIV). Sie bestehen aus einer baumumstandenen Rasenfläche, woran sich ein mit aromatischen Kräutern und Blumen bepflanzter Teil anschließt. Eine Rasenbank, also ein erhöhtes, zum Sitzen geeignetes Rasenstück, lädt zum explizit Verweilen ein.

Maria und der verschlossene Garten

Es mag diese Art von aus Obst- und Kräutergarten kombinierten Gärten gewesen sein, die um etwa 1400 zur Ausgestaltung eines weiteren Gartentyps inspirierten: den Mariengärten – ein Sujet, das vor allem in der ersten Hälfte des 15. Jahrhundert in verschiedenen Kunstgattungen Ausdruck fand. Es handelt sich dabei um Darstellungen der Gottesmutter Maria in einem häufig üppig mit Blumen ausgestatteten, von einem Zaun oder einer Mauer umgebenen Garten. Diese hochsymbolischen Bilder haben in der spätmittelalterlichen Marienverehrung ihren Ort und basieren letztlich auf der "Neu"-Entdeckung des Hoheliedes in der Marienfrömmigkeit ab dem 12. Jahrhundert. Die bild- und anspielungsreichen Verse der intimen Beziehung zweier Liebender wurde bei den Kirchenvätern in der Regel allegorisch als Verhältnis der Kirche zu Christus gedeutet. In der Interpretation des Benediktiners Rupert von Deutz (um 1070-1129) werden sie ganz auf Maria bezogen. Sie wird angeredet mit "[e]in verschlossener Garten bist du, […] ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell. Deine Gewächse sind ein Paradiesgarten von Granatbäumen mit den Früchten ihrer Äpfel, Zyprusblumen mit Narde" (Hld 4,12f., VUL). Rupert kommentiert: "Was also wird mit diesen Worten gepriesen, wenn nicht die Jungfräulichkeit der Empfangenden und die Unversehrtheit der Gebärenden?" Sie wird Garten genannt, weil "aus dir [sc. Maria] etwas geboren worden ist, das niemals endet, und weil deine Frucht niemals ihre Kraft verliert oder ausbleibt" (Cant. 4,12-15). Aus ihr ging mit Christus die Fülle des Heils hervor, die die Kirche verkörpert. Die Aufforderung, von den Gartenfrüchten zu essen (Hld 4,16; 5,1) bezieht Rupert auf die Eucharistie.

Bild: ©Google Art Project

Wie hier im "Paradiesgärtlein" des Oberrheinischen Meisters wurde die Gottesmutter Maria im Spätmittelalter häufig in einem ummauerten Garten dargestellt.

Die Auslegung von Maria als Garten wird in der Kunst zu Maria im Garten, dessen Ausstattung auf verschiedene Aspekte ihrer theologischen Ausgestaltung hinweist. Es sind vor allem drei Bildtypen, die dies darstellen und je andere Schwerpunkte setzen: Maria im Rosenhag, das Paradiesgärtlein und der Hortus conclusus. Allen gemeinsam ist ein idealisierter Garten als Bühne eines "überirdischen" Geschehens. Ein Beispiel für den erstgenannten Bildtyp ist die um 1450 entstandene Madonna im Rosenhag des Malers Stefan Lochner (†1451). Die Muttergottes sitzt an einer Rasenbank unter einer mit Rosen – hier als Inbegriff der Liebe und Schönheit auf Maria bezogen – umrankten Laube. Auf ihrem Schoß hält sie das Jesuskind. Der Goldhintergrund und die sie umgebenden musizierenden Engel weisen darauf hin, dass sich das Geschehen "im Himmel" ereignet. Engel heben einen Brokatvorhang und gewähren dem Betrachter Einblick. Dieser darf sich eingeladen fühlen, heranzutreten und mit den Engeln Maria zu ehren. Beim genaueren Hinschauen entdeckt man Blumen, die in besonderer Weise mit dem Wesen der Gottesmutter assoziiert werden: Madonnen-Lilie (für Reinheit, Jungfräulichkeit), Erdbeeren (ihre jungfräuliche Reinheit und Mutterschaft) und Veilchen (die Demut).

Manche Bilder führen den Betrachter in eine größere Szene. Das um 1410/20 angefertigte Paradiesgärtlein des namentlich unbekannten Oberrheinischen Meisters zeigt Maria mit Kind und verschiedenen Heiligen in einem mauerumschlossenen, vielfältig mit blühenden Pflanzen, Vögeln und Schmetterlingen ausgestatteten Garten lesend an einer Rasenbank. Die Szene erinnert eher an eine höfische Gesellschaft. Ihre ausgeführten Tätigkeiten sind mehr erholsame Zerstreuung als Arbeit. Die detailreiche und naturgetreue Darstellung von 27 Pflanzen- und 15 Tierarten lädt ein, schauend durch den Garten zu wandern und sich an immer wieder neuen Entdeckungen zu freuen. Auch dieses Bild ist reich an symbolischen Bezügen: Ein getöteter Drache weist zusammen mit dem gefesselten Teufel auf die Überwindung des Bösen hin, die Quelle auf den Garten Eden, die Äpfel auf dem Tisch auf die Erlösung. Außer Rose, Lilie, Erdbeere und Veilchen sind als typische Marienpflanzen noch Pfingstrose, Akelei, Iris und Maiglöckchen zu finden. Der Betrachter steht auch bei diesem Bild nicht außerhalb, sondern ist in das zu ihm hin offene Geschehen hineingenommen. Dennoch sind drinnen und draußen nicht aufgehoben, denn eine starke Mauer schließt den Garten nach hinten ab. Ein Baum jenseits der Mauer lässt auf eine Welt außerhalb schließen. Eintritt in den Garten erhält nur, wer es versteht, sich auf ihn einzulassen und seinen symbolischen Bezügen nachzusinnen. Das Bild zu betrachten, bedeutet dann, in Gemeinschaft mit Maria und den Heiligen als Vorbilder des Glaubens ein unbeschwertes Leben zu genießen. In diesem Garten gibt es keine Wege mehr, die wegführen, denn er bedeutet das Angekommensein im Heil.

Bild: ©Erwin Meier / Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0

In der Schatzkammer des Erfurter Mariendoms wird ein Tafelbild eines unbekannten Meisters aus den Jahren 1470/80 gezeigt, auf dem Maria mit einem Einhorn zu sehen ist.

Einen anderen Akzent setzen die sogenannten Hortus-conclusus-Darstellungen. In der Schatzkammer des Erfurter Mariendoms wird ein Tafelbild eines unbekannten Meisters aus den Jahren 1470/80 gezeigt, auf dem Maria mit einem Einhorn zu sehen ist. Sie hat auf einer mit einem Flechtzaun umgebenen Blumen­wiese Platz genommen. Ein als Erzengel Gabriel zu identifizierender Jäger treibt das Einhorn mit den Hunden "Gerechtigkeit", "Barmherzigkeit", "Wahrheit" und "Friede" in den Garten und Marias Schoß. Im Physiologus, einer frühchristlichen, allegorischen Naturlehre, heißt es von dem Tier, dass es kein Jäger fangen könne, es aber zahm den Kopf in den Schoß einer Jungfrau lege. Bereits hier wird die Jungfrau auf Maria, der Jäger auf Gabriel, das Einhorn auf Christus hin gedeutet. Das zentrale Thema des Hortus conclusus ist somit die Empfängnis Mariens: Aus dem geöffneten Himmel kommt das Jesuskind vom segnenden Gott mit dem Kreuzstab auf Maria herab. Der eher wenige Gartenassoziationen weckende umzäunte Bereich ist mit einer Reihe von Gegenständen ausgestattet, die nach der Auslegungstradition die jungfräuliche Empfängnis präfigurieren: der versiegelte Brunnen (Hld 4,12), das verschlossene Tor (Ez 44,1-3), der brennende Dornbusch (Ex 3,1-5), das Fell Gideons (Ri 6,36-40), sowie der Stab Aarons (Num 17,16-23).

Der Betrachter beobachtet die Szenen von außerhalb des Gartens, sein Standort befindet sich jenseits des Zaunes. Er wird also nicht direkt eingeladen, sich als Teil des Geschehens zu verstehen. Seine Anteilnahme erfolgt auf eine Weise, die vor allem im Mönchtum geübt, ab dem hohen Mittelalter aber "klassisch" für den Umgang mit der Heiligen Schrift wurde. Sie wird in der Schrift Scala claustralium des Kartäusermönchs Guigo (†1193) erläutert und besteht aus den vier Schritten lectio, meditiatio, oratio, contemplatio und wird von ihm als "Leiter zu Gott" bezeichnet. Im Anschauen der Gegenstände und Szenen "liest" der Betrachter die entsprechenden Erzählungen der Heiligen Schrift. In der Meditation sinnt er über ihre allegorischen Bedeutungen in der Heilsgeschichte nach. Der Betrachter wird angehalten, diese einmaligen, zu anderen Zeiten anderen Personen widerfahrenen Begebenheiten auf seine eigene Situation hin zu reflektieren und dies zum Gebet werden zu lassen. Das innige Gebet kann letztlich zur Kontemplation, zu einer persönlichen Gottesbegegnung führen. So hat der Betrachter zwar keinen unmittelbaren Zugang zu Marias Empfängnis und Geburt des göttlichen Wortes, aber er ist eingeladen, mit ihrer Hilfe zur eigenen "Gottesgeburt in der Seele" (Meister Eckhart, um 1260-1328) zu finden.

Von hier aus sei abschließend ein Blick zurück geworfen auf den notwendigen Garten aus der Regula Benedicti. Der Sinn eines Gartens erschöpft sich nicht in der täglichen Versorgung mit Nahrung. Ein Garten ist viel mehr: verantwortungsvolle Gestaltung der Schöpfung, ein Ort des Dialogs mit ihr, ein Ort der Betrachtung und Muße, Wegweiser zu Heilung und Heil. Der Garten ist dabei so vielfältig, wie der Mensch selbst in seinem Angewiesensein, seinen Begrenztheiten und Bedürfnissen, aber auch in seinem Vertrauen und seinen Hoffnungen.

Von Victor Lossau

Der Autor

Victor Lossau ist Benediktiner in Wechselburg/Sachsen und Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Katholische Theologie (Professur für Biblische Theologie) der TU Dresden. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen das Buch Jesaja, die Kulturgeschichte des Gartens und die Flora Palästinas.

Hinweis

Der Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Welt und Umwelt der Bibel. Die aktuelle Ausgabe trägt den Titel "Eine Ahnung vom Paradies" und beschäftigt sich mit der politischen und theologischen Dimension von Gärten.