Ein etwas anderes Martinsfest in der Kölner Innenstadt

Obdachlosenseelsorge in Köln: "Bei uns ist jeden Tag Sankt Martin"

Veröffentlicht am 11.11.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Köln ‐ In Köln veranstaltet die Obdachlosenseelsorge ein besonderes Martinsfest. Dazu sind viele helfende Hände nötig – doch die werden immer weniger. Eine Reportage über Obdachlosigkeit in der Großstadt, freiwilliges Engagement und die Hoffnung auf die Kraft der Martinslegende.

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Kurz vor 21 Uhr im Vollmond-Schatten des Kölner Doms: Schwester Christina Klein zieht einen Stapel Liedblätter aus ihrem Rucksack und wirbelt im Ordensgewand durch die Grüppchen auf dem Appellhofplatz. "Hier: der Liedzettel. Damit Du auch gleich mitsingen kannst." Im Schummerlicht einer Straßenlaterne haben ihre Mitschwester und einige Musiker ihre Notenständer aufgebaut, Geige und Gitarre werden gestimmt, Lieder abgesprochen; daneben beginnt vor der grell beleuchteten U-Bahn-Station die abendliche Suppenausgabe. Der Duft von rheinischem Erbseneintopf legt sich über den Platz. "Da kommt er" – "Sankt Martin kommt" rufen Schwestern und Musiker den Suppenessern zu. Während auf der Hauptstraße die Autos vorbeirauschen, wird es auf dem etwas erhöhten Appellhofplatz besinnlich: Sankt Martin besucht die Kölner Obdachlosen.

Kaum kommen Martinsdarstellerin Linda Beyer, ihr weißes Martinspferd Manfred und Pferdeführer Thomas Pütz vor den Musikern zum Stehen, werden Ross und Reiterin schon von den Gästen der Suppenküche umringt. "Das ist hier immer ein ganz besonderer Martinsauftritt", erzählt Thomas Pütz, während er Manfreds Zaumzeug hält. Natürlich darf jetzt gestreichelt werden. Rene ist schon lange Gast bei der Obdachlosenseelsorge, sie freut sich über den tierischen Besuch: "Zum Glück ist es dieses Jahr nicht so kalt. Letztes Jahr mussten wir uns richtig warm tanzen", berichtet sie und streichelt Manfred. Pütz überrascht die Hauptrolle des Pferds nicht: "Anders als bei unseren Auftritten in Kindergärten, Schulen oder Altenheimen suchen die Menschen auf dem Appellhofplatz den direkten Kontakt zu den Tieren." Das sei schon sehr auffällig. Aber Pferd Manfred mache das nichts aus.

Schlechter Gesundheitszustand vieler Obdachloser

Pütz ist seit sieben Jahren zu Sankt Martin am Appellhofplatz. Damals wurde der Sauerländer auf die Obdachlosen in der Stadt aufmerksam und meldete sich mit seiner Idee bei der katholischen Obdachlosenseelsorge. "Das passt doch so gut zur Martinsgeschichte. Die Obdachlosenseelsorge war dann auch sofort dafür." Daraus wurde dann ein Martinszug der armen Leute durch die Kölner Innenstadt. Doch mehr und mehr zeigte sich ein Problem: "Der Gesundheitszustand vieler Obdachloser in Köln ist sehr schlecht. Viele schaffen die 500 Meter vom Bahnhof zum Appellhofplatz nicht", berichtet Schwester Christina. Also kommt Sankt Martin heute zu ihnen.

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

Schwester Christina Klein kümmert sich im Auftrag des Kölner Stadtdekanats um die Kölner Obdachlosen.

Derweil ist Martinsreiterin Linda Beyer von ihrem Pferd gestiegen und verteilt Weckmänner unter den Gästen. Die Weckmänner sponsert eine große Kölner Bäckerei. Hier und da gibt es einen zweiten Weckmann oder eine Extra-Tüte, um die Weckmann-Reste für die Nacht zu transportieren. Einige Obdachlose sind mit beiden Händen voller Taschen oder ihrem tütenbehangenen Fahrrad gekommen, andere wirken, als kämen sie gerade von ihrer Arbeit. Man ist schweigsam, im Internet möchte hier niemand seinen Namen lesen. "Ich möchte den Obdachlosen ein Lächeln schenken", sagt Beyer, während sie weiter Weckmänner verteilt. In ihrer sauerländischen Heimat Werdohl ist sie auch als Sankt Martin unterwegs.

Bevor sie an den Appellhof kamen, waren sie heute schon in einem Altenheim, im Kindergarten und in einem Hospiz, erzählt Pütz. Ob auf der Demenzstation oder bei den Obdachlosen, die Abwechslung und die Begegnung mit dem Martinspferd wecke bei vielen Kindheitserinnerungen. Aber der Brauch habe eine ungewisse Zukunft vor sich: "Wir haben in diesem Jahr 14 Termine im Rheinland. Es wird immer schwieriger, freiwillige Martinsreiter zu finden. Diese Erfahrung teilen auch die anderen Helfer in Köln. Vor Corona konnte die Emmaus-Gemeinschaft, die die Suppenküche organisiert, an allen Wochentagen von 21 bis 22 Uhr eine warme Mahlzeit anbieten, heute fehle es an Freiwilligen, sodass sie ihr Angebot auf drei Tage reduzieren musste. Ähnliches berichtet Schwester Christina. Gerade sucht sie händeringend nach Helfern für das Kölner Nachtcafe. In den Wintermonaten ermöglichen es Ehrenamtliche, dass Obdachlose in Kölner Kirchen und Gemeindehäusern übernachten können. In diesem Jahr mangle es aber an Freiwilligen. Sie hofft aber dennoch auf Verstärkung: "Die Martinsgeschichte sensibilisiert."

"Obdachlose sind Gott sehr nahe"

Die Suppenküche ist für die 61-jährige Franziskanerschwester Christina aber nicht nur ein Ort für das leibliche Wohl. "Die offene Suppenküche ist ein guter Ort, um ins Gespräch zu kommen", sagt sie. Wahrnehmen, miteinander reden, füreinander da sein und manchmal auch Socken oder warme Schuhe verteilen – "wie in der Martinsgeschichte". So versteht sie ihre Aufgabe in der Domstadt. Schnell kann aus solchen Begegnungen am Suppentopf ein Seelsorgegespräch werden: "Obdachlose sind Gott sehr nahe".

Bild: ©Harald Oppitz/KNA

In der Kölner Obdachlosenkirche Gubbio können Wohnungslose in den Wintermonaten schlafen. Die Aktion Kölner Kirchengemeinden heißt Nachtcafe. Doch die Helfersuche bereitet Schwester Christina Mühe.

Den Wunsch nach Spiritualität merke sie auch bei ihrer Arbeit in der Kölner Obdachlosenkirche Gubbio. Dort bieten Christina und ihr Team im Auftrag des Kölner Stadtdekanats spirituelle Angebote für Obdachlose an: "Bei uns ist jeden Tag Sankt Martin". Zum wöchentlichen Bibelteilen kommen bis zu zwanzig Gäste. Auch Glaubensgespräche und die Gottesdienste mit dem Kölner Weihbischof Ansgar Puff seien gut besucht. "Aber die sind ohne Predigt – jeder erhält bei uns das Wort. Auf der Straße läuft vieles anders", erzählt sie. Daher seien auch Hunde in der Kirche immer willkommen. In Köln haben derzeit rund 8000 Menschen kein eigenes Dach über dem Kopf, 500 davon leben auf der Straße. Die jüngsten sind grade volljährig, die ältesten über siebzig. "Mit der Krise steigen die Obdachlosenzahlen. Wenn die Politik nicht handelt, fliegt uns das alles um die Ohren", sorgt sich die Ordensfrau. Armut, Schulden und Kündigungen häufen sich gerade. Doch heute soll ein bisschen gefeiert werden – "wie sich das im Rheinland gehört", sagt die Franziskanerin und fängt an zu singen – "Oh helft mir doch in meiner Not".

Von Benedikt Heider