Ukrainerin: "Ich hoffe auf ein Weihnachtswunder"

Ich bin Olena Noha. Ich bin 43 Jahre alt und ich lebe im Krieg. Seit 10 Monaten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, als am 24. Februar der Krieg ausgebrochen ist. Damals war ich gerade bei einer Konferenz der Caritas in Odessa. Spätabends saßen wir noch gemütlich zusammen. Und auf einmal kam die Nachricht, dass die Flughäfen beschossen werden. Ich bin in Panik nach Hause gefahren. Ich wollte nur noch zu meinem Mann und meinen Kindern. Seitdem ist Krieg. Jeden Tag. Inzwischen bin ich es gewöhnt, dass es täglich Luftalarm gibt. Es ist schrecklich, dass sich Menschen auch an so etwas Grausames gewöhnen können. Zurzeit ist es in Kiew sehr kalt, es liegt Schnee. Tagsüber haben wir nur zwei oder drei Stunden lang Strom, Wasser und Heizung. Gott sei Dank liegt das Caritas-Zentrum, in dem ich arbeite, mitten in einem Industrieviertel in Kiew. Dort gibt es tagsüber meist Strom.
Zu Hause in meiner Wohnung habe ich seit Wochen keinen Strom, auch keine Heizung. Ich ziehe mich jetzt einfach wärmer an. Es gibt keinen Strom, weil viele unserer Kraftwerke durch Bomben zerstört worden sind. In manchen Regionen gibt es überhaupt keinen Strom mehr. Das ist schlimm, vor allem für ältere Menschen, für Menschen, die bettlägerig sind, für Menschen mit Behinderungen, für Familien mit kleinen Kindern, für Babys. Wie soll das Leben weitergehen hier in der Ukraine, frage ich mich?

Olena Noha ist Mitarbeiterin der Caritas-Spes im Auftrag der römisch-katholischen Kirche der Ukraine.
Familien leben seit Monaten im Keller
Zuletzt hatten wir ein Treffen mit allen Caritas-Direktoren in der Ukraine hier in Kiew. Der Direktor aus Charkiw hat schlimme Dinge erzählt. Es gibt Menschen, die leben seit Beginn des Krieges, also seit Monaten, in einem Keller. Es sind genau genommen zwei Kellerräume unterhalb von zwei Wohngebäuden. Dort unten leben auf engstem Raum 90 Menschen zusammen. Davon 30 Kinder. Ist das nicht schrecklich? Sie sind nachts und auch tagsüber fast nur in den Kellern, weil die Stadt noch immer bombardiert wird und sie sich dort sicher fühlen. Im Keller ist es viel kälter als in den Häusern. Die Kinder frieren sehr. Daher besorgen wir von der Caritas-Spes warme Decken, Winterkleidung und Stromgeneratoren für sie. Diese Menschen könnten aus Charkiw fliehen. Aber sie wollen nicht weg. Sie wollen so lange unter der Erde ausharren, bis der Krieg vorbei ist. An Weihnachten wollen wir ihnen eine besondere Freude bereiten. Diese Kinder bekommen von uns Tablets geschenkt. So können sie damit lernen, spielen und sich ablenken.
Wir von der Caritas-Spes helfen, wo wir können. So wie viele andere Einrichtungen und Wohltäter es auch für die Menschen in der Ukraine tun. In den befreiten Gebieten konnten wir schon 50 zerstörte Häuser wieder aufbauen, so dass die Familien wieder in ihr dort einziehen konnten. Das ist ein Erfolg für uns. Der Wiederaufbau beginnt. In anderen Gegenden kümmern wir uns um die Lebensmittelversorgung, um Heizdecken und Heizgeräte. Aber wenn es keinen Strom gibt, helfen Heizgeräte auch nicht weiter. Wir sind zurzeit sehr engagiert für die Menschen in Cherson. Die Stadt wurde zwar erst vor kurzem befreit, wird aber weiterhin trotzdem mit Raketen angegriffen. Es ist daher gefährlich für unsere Freiwilligen, die Hilfsgüter dorthin zu bringen. Sie machen es trotzdem. Dafür bewundere ich sie. Aber die Menschen dort brauchen dringend unsere Hilfe. Wir organisieren gerade eine Suppenküche für sie und es gibt warmen Tee. Eine Kollegin hat mir von ihrer Mutter erzählt. Sie ist über 60 Jahre alt und lebt auch in Cherson. Sie will nicht wegziehen von dort, sondern helfen. Sie kocht jeden Tag für die ukrainischen Soldaten warmes Essen. Sie hat Glück, denn in ihrem Haus gibt es Strom und eine Heizung. Daher lässt sie Menschen, die nichts mehr haben, bei sich duschen oder kochen. Sie ist wie eine Herberge für andere. Es beeindruckt mich, wie Menschen in diesem grausamen Krieg einander helfen.
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Auch wenn es nicht mehr so viele Binnenflüchtlinge im Land selbst gibt, wie es anfangs in den ersten Kriegsmonaten war, kommen immer wieder Menschen in unsere Flüchtlingsunterkünfte. In Kiew ist vor ein paar Tagen eine Mutter mit ihren sieben Kindern eingetroffen. Sie hatten nichts dabei, außer das, was sie am Leib trugen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, aus den stark umkämpften Gebieten der Ostukraine zu flüchten. Aber diese Frau ist so glücklich, denn sie hat wieder ein Dach über dem Kopf und ist mit ihren Kindern in Sicherheit. Wo ihr Mann ist und ob er überhaupt noch lebt, weiß sie nicht. Jetzt wollen wir für die Kinder warme Winterschuhe besorgen. Sie haben überlebt, das ist das Wichtigste.
Wenn wir mit den Kollegen, die in den besetzten Gebieten der Ostukraine sind, telefonieren, passen wir immer auf, was wir miteinander reden. Wir reden dann in einer verschlüsselten Sprache miteinander. Denn wir gehen davon aus, dass alle Gespräche mitgehört und kontrolliert werden. Selbst Handys werden dort scharf kontrolliert. Wenn jemand dort etwa ukrainische Nachrichtenseiten mit dem Mobilgerät aufruft, kann er dafür ins Gefängnis gebracht werden. Es dürfen nur russische Internetseiten gelesen werden. Sie sind voll von Kriegspropaganda. Ich bin stolz auf meine Kollegen, die trotz all diesen schrecklichen Dingen dort in den besetzten Gebieten weiterhin für die Caritas arbeiten und für die Menschen da sind. Sie lachen am Telefon und im Hintergrund höre ich die Granaten explodieren. Sie leben unter solch schlimmen Umständen, trotzdem vermitteln sie so eine Hoffnung.

Die Caritas-Spes hilft, die vom Krieg zerstörten Häuser in der Ukraine wieder aufzubauen. Vor allem die Menschen in den kleineren Dörfern sind sehr dankbar für die Unterstützung.
Ohne Strom und Internet kann ich leben, aber ohne Frieden?
Ich bin froh, dass meine Tochter schon in den ersten Kriegswochen nach Polen flüchten konnte. Sie hat dort eine Wohnung gefunden und studiert jetzt. Sie ist in Sicherheit. Ich habe sie sogar schon einmal dort besucht. Mein Sohn ist zurzeit in der Nord-Westukraine in der Nähe von Weißrussland. Wir sind in engem Kontakt. Er arbeitet als Freiwilliger beim Militär. Er kennt sich gut mit Drohnen und Militärautos aus. Er kauft solche Geräte ein und zeigt den Soldaten, wie man sie benutzen kann. Der Sohn meiner besten Freundin ist selbst Soldat und kämpft an der Front. Wir machen uns Sorgen um unsere Söhne.
Jeden Tag gibt es in Kiew Raketenalarm. Manchmal, wenn ich einkaufen gehe, überlege ich, ob ich es schaffen werde, rechtzeitig vor dem nächsten Alarm wieder zu Hause zu sein. Gestern war ich in einem Einkaufszentrum. Als ich an der Kasse stand, gingen die Sirenen los. Die Kassiererin hat sich bei mir entschuldigt und dann sind wir zusammen in den Keller gerannt. Später bei der Arbeit gab es auch wieder Alarm. Wir saßen fast drei Stunden im Bunker. Erst danach haben wir erfahren, dass 13 gefährliche Kamikaze-Drohnen auf Kiew zugeflogen sind. Sie sind sehr kompliziert zu entdecken. Aber sie konnten mit einem speziellen Abwehrsystem abgefangen werden. Sie hätten sonst alles vernichtet. Wir haben Glück gehabt. Als ich im Bunker saß, ohne Verbindung nach draußen, dachte ich, vielleicht ist es nun vorbei. Was gibt dir Kraft, weiterzumachen, falls du überlebst, habe ich mich gefragt. Ich dachte mir, ohne Strom, ohne Internet kann ich leben. Aber ohne Frieden? Jetzt habe ich keine andere Wahl. Ich muss weitermachen, für mein Land, für meine Leute. Irgendwann wird es bestimmt wieder gut.

Viele Menschen in der Ukraine haben durch den Krieg ihr Zuhause verloren.
Oft sitze ich nachts im Flur und zittere, bis der Luftalarm wieder vorbei ist. Manchmal bleibe ich aber auch im Bett. Ich bin es gewöhnt, dass es Angriffe gibt. Ich habe Angst. Aber ich habe genug Kraft, um weiterzumachen und den Menschen zu helfen, die keine Kraft mehr haben. Im Herbst in diesem Jahr war ich in Deutschland unterwegs. Ich habe Spendengelder organisiert und verschiedene Einrichtungen besucht. Ich war auch schon vor dem Krieg in Deutschland. Ich reise sehr gerne. Aber ich will kein Flüchtling sein. Ich liebe meine Ukraine. Daher will ich hier sein und helfen. Ich gehe nicht weg, ich bleibe.
An Weihnachten erwarten wir viele Angriffen. Wir Christen werden dann die Geburt Jesu feiern und gleichzeitig um unser Leben fürchten. Ich werde dieses Jahr bei meinen Eltern Weihnachten feiern. Sie haben ein Haus außerhalb von Kiew. Sie haben einen Holzofen und Holz. Was ich mir zu Weihnachten wünsche? Frieden! Ich hoffe jeden Tag, darauf, endlich die Nachricht lesen zu können: „Der Krieg ist vorbei, es ist wieder Frieden in der Ukraine“. Ich wünsche mir so, dass meine Kinder eines Tages in einem Land wohnen, in dem wieder Frieden herrscht.
Was sich die Kinder wünschen
Die Kinder, die hier in der Ukraine leben und auch die, die auf der Flucht sind, wünschen sich nur eines: Sie wünschen sich wieder zurück ins eigene Haus zu können, ins eigene Zimmer, zu den eigenen Spielsachen. Doch für viele gibt es dieses alte Leben nicht mehr. Es ist zerstört, kaputt. Der Winter wird schlimm werden. Viele werden erfrieren. Was passiert mit den Menschen in den Kellern, wenn es draußen minus 20 Grad haben wird? Werden die Kinder überleben?
Ich hoffe auf ein Weihnachtswunder. Und ich werde nicht aufhören jeden Tag um den Frieden zu beten. Ich denke mir oft: Warum hört Gott uns nicht? Warum lässt er es zu, dass wir so leiden müssen. Will Gott noch mehr Geduld von uns? Ich möchte überleben. Wir Ukrainer möchten überleben. Daher glauben wir daran, dass ein Wunder geschieht. Wir wollen unser Land wieder in Frieden aufbauen, wir wollen wieder in Frieden miteinander leben. Das gibt mir Hoffnung.
Zur Autorin
Olena Noha arbeitet seit mehr als 20 Jahren bei der katholischen Caritas-Spes in Kiew. Sie spricht deutsch und organisiert internationale Kooperationspartner.