Ein langer Weg: Missbrauchsaufarbeitung in der Gemeinschaft von Taize
Eingängige Melodien, meditative Gebete, tiefe Gespräche: Die ökumenische Gemeinschaft von Taize steht für ein offenes Christentum. Seit Jahrzehnten zieht sie junge Menschen aus der ganzen Welt in das gleichnamige Dorf im französischen Burgund. In vertrauter Atmosphäre leben sie zusammen mit den rund 100 Ordensbrüdern. Die Gemeinschaft lädt zudem alljährlich an wechselnden Orten zu Europäischen Jugendtreffen ein. Das nächste soll vom 28. Dezember bis zum 1. Januar in Rostock stattfinden. Rund 5.000 Teilnehmer werden erwartet.
Anne Terlongou schaut mit Sorge auf die Veranstaltung. Die 42-Jährige aus Norddeutschland verbindet eine unangenehme Erinnerung mit der Gemeinschaft und hat im Frühjahr einen Bruder wegen sexueller Nötigung angezeigt. Er soll sie in Taize sexuell belästigt haben. "Wenn solche Dinge selbst dort passieren, wo die Gemeinschaft zu Hause ist, frage ich mich, wie sie an einem fremden Ort für Sicherheit sorgen will", so Terlongou. Auch andere Betroffene seien besorgt. Im Vorfeld des Treffens entschied sie sich daher, ihren Fall öffentlich zu machen.
Sie fordert, dass sich die Gemeinschaft auch mit den strukturellen Ursachen sexualisierter Gewalt auseinandersetzt und eine Studie in Auftrag gibt: "Es geht mir nicht vornehmlich um mich, sondern darum, junge Menschen zu schützen."
Schon als Jugendliche in Taize
Terlongou besuchte Taize schon als Jugendliche und lebte von 2006 bis 2008 als Freiwillige dort. 2009 begann ein E-Mail-Kontakt zu einem Bruder, der für sie zu einer Art Seelsorger wurde. Da sie überlegte, selbst Ordensschwester zu werden, reiste sie im selben Jahr erneut nach Taize und traf sich auch mit dem Bruder zu Gesprächen.
Für das letzte Treffen vor ihrer Abreise schlug er einen ungewöhnlichen Zeitpunkt am Abend vor, wie Terlongou berichtet. Alle Anwesenden seien in der Kirche versammelt gewesen, um eine Rede des Priors zu hören. Bei der Begegnung habe der Bruder zunächst ihre Hand genommen, was ihr unangenehm gewesen sei. Zum Abschied habe er sie bei den Schultern gepackt und auf den Mund geküsst: "Ich war zunächst schockstarr und bin davongelaufen."
Als Terlongou den Bruder am Tag darauf zu Rede stellte, habe er sich zunächst entschuldigt: "Er sagte, er habe nicht gedacht, dass ich das als schlimm empfunden hätte. Es sei ja nur ein Gute-Nacht-Kuss gewesen." Bei einer weiteren Konfrontation sei er unfreundlicher aufgetreten.
Zehn Jahre Schweigen
Zehn Jahre lang schwieg die Frau zu dem Vorfall. "Aufgrund meiner Erfahrungen mit Taize fürchtete ich nicht ernst genommen zu werden, wenn ich von dem Kuss erzähle", sagt sie rückblickend. 2019 machten die Taize-Brüder erstmals Fälle von mutmaßlicher sexualisierter Gewalt in den eigenen Reihen öffentlich und riefen weitere Betroffene dazu auf, sich zu melden. Terlongou wandte sich per Mail an die Bruderschaft – zunächst anonym und mit der Bitte um Vertraulichkeit.
Anfang dieses Jahres kontaktierte sie die Brüder erneut und nannte ihren Namen. Auf Anraten der Gemeinschaft erstattete sie Anzeige bei den französischen Behörden. Das Verfahren wurde jedoch wegen Verjährung eingestellt. Die Brüder schlugen ihr vor, sich an die von den französischen Orden eingesetzte Kommission "Anerkennung und Wiedergutmachung" zu wenden. Gemeinsam mit diesem Gremium will Terlongou auf Konsequenzen für den Beschuldigten pochen und auch eine finanzielle Anerkennung des Vorfalls erreichen.
Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) hat die Taize-Gemeinschaft erstmals Ende November mit dem Fall konfrontiert. Seitdem haben die Ordensmänner die Hinweise zu sexualisierter Gewalt auf ihrer Internetseite mehrfach aktualisiert und zuletzt einen Zwischenbericht zum Umgang mit dem "Schutz von Personen" eingestellt, in dem sie neue Vorwürfe – darunter auch Terlongous Fall – öffentlich macht.
Weiterhin Teil der Gemeinschaft
Der Bruder, den Terlongou beschuldigt, ist weiterhin Teil der Gemeinschaft. Er übe aber derzeit keine seelsorgerliche Tätigkeit aus, sagt Taize-Sprecher Bruder Francis. An dem Treffen in Rostock nehme er nicht teil. Zu weiteren Details wollen sich die Gemeinschaft und der betreffende Bruder aufgrund des laufenden Mediationsprozesses nicht äußern. Man warte auf die Empfehlungen der Kommission, so Bruder Francis. Die Kommission selbst lässt Anfragen unbeantwortet.
Laut dem aktuellen Bericht haben sich seit 2019 insgesamt 62 Personen mit Hinweisen auf Fehlverhalten an die Gemeinschaft gewandt. Die eingegangenen Meldungen beträfen die unterschiedlichsten Situationen – von als diskriminierend empfundenen Bemerkungen bis hin zu sexuellen Übergriffen. Beschuldigt würden acht Brüder und auch Teilnehmer der Treffen.
15 Anschuldigungen gegen Ordensmänner hat Taize den Angaben zufolge der französischen Justiz übergeben. Davon habe eine zu einer gerichtlichen Untersuchung geführt, die noch nicht abgeschlossen sei. In diesem Fall, der bereits öffentlich bekannt ist, wird einem Bruder vorgeworfen, eine erwachsene Person vergewaltigt und in ein jahrelanges Abhängigkeitsverhältnis gebracht zu haben. Der Beschuldigte hat die Gemeinschaft im Frühjahr 2020 verlassen.
Verpflichtende Präventionsschulungen
In einer Anfang Dezember veröffentlichten Stellungnahme bekräftigt der Vorsteher der Gemeinschaft, der aus Deutschland stammende Bruder Alois, Taize wolle weiter entschieden gegen alle Formen des Missbrauchs vorgehen. Laut Taize-Internetseite müssen heute alle Mitglieder und Freiwilligen Präventionsschulungen absolvieren. Die unter der angegebenen E-Mail-Adresse eingehenden Meldungen würden inzwischen nicht nur von den Brüdern selbst, sondern auch von externen Personen gelesen und beantwortet, sagt Bruder Francis. Betroffene kritisieren allerdings, auch diese Personen stünden der Bruderschaft nahe.
Mit Blick auf das Treffen in Rostock veröffentlichte die Gemeinschaft erst Ende November ein Schutzkonzept, obwohl bereits seit September Brüder und Freiwillige des Vorbereitungsteams vor Ort leben. Das Konzept benennt unter anderem drei Ansprechpersonen, denen mögliche Vorfälle gemeldet werden können. Daneben verweist es auf das Hilfetelefon der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sowie auf Ansprechpersonen der evangelischen Nordkirche und des katholischen Erzbistums Hamburg, die schon lange eigene Präventionsstellen unterhalten.
Taize habe sich relativ spät an die örtlichen Kirchen gewandt, sagt der Präventions- und Meldebeauftragte des evangelischen Kirchenkreises Mecklenburg und Pommern, Martin Fritz. Die Gemeinschaft habe erste Vorschläge vorgelegt, und gemeinsam habe man ein Schutzkonzept erarbeitet, das von unabhängigen Fachberatungsstellen geprüft worden sei. "Ich habe den Eindruck, dass sich die Brüder von Taize um Intervention und Prävention bemühen, aber noch auf dem Weg sind", so Fritz.