Heiliger Zorn?
Der zweiminütige Videoclip, der einen Mann zeigt, dessen Kopf immer röter wird, kommt einem Katholiken seltsam vertraut vor: Wut? Da war doch was… Schließlich gilt der Zorn als eine der sieben Todsünden, also der Charaktereigenschaften aus denen Sünden entstehen können. Aber schon lange bevor die klassische Theologie die Todsünden definierte, war die Bibel voll von Zorn:
Im Alten Testament zürnt Gott immer wieder und greift gegen die Sünde ein; als Beispiele seien die Sintflut, die Zerstörung des Turms von Babel sowie von Sodom und Gomorra genannt. Auch an einigen Stellen im Neuen Testament wird vor dem Zorn Gottes gewarnt – und das Jüngste Gericht als "Tag des Zorns" beschrieben. Und doch wird der Höchste auch als lernfähig und nicht ganz von seinem Zorn bestimmt dargestellt. Als der Prophet Jona den Bewohnern von Ninive ihre Zerstörung ankündigt und eine Bußbewegung auslöst, verschont Gott die Stadt.
Auch Jesus leistet sich emotionale Ausbrüche
Und wenn Zorn eine rein negative Eigenschaft wäre, wieso ist sie dann auch bei den Handlungen von Gottes Sohn überliefert? Genau wie Steinmeier seine Angreifer anpöbelt, reagiert auch Jesus bei der Hochzeit zu Kana nicht gerade mit diplomatischen Worten auf seine Mutter und weist Maria schroff zurück: "Was willst du von mir, Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen."
Direkt im Anschluss ist im zweiten Kapitel des Johannesevangeliums ein weiterer Ausraster von Jesus überliefert. Nach der Hochzeit geht er nach Jerusalem und vertreibt Händler aus dem Tempel. Mit einer selbstgebastelten Geißel geht er auf die Verkäufer los, schüttet das Geld der Wechsler aus und stößt die Tische um. Die Jünger erklären sich das Verhalten ihres Herren mit einem alten Schriftzitat "Der Eifer für dein Haus verzehrt mich."
Zorn für Gerechtigkeit auf Erden
Womit wir zum "heiligen Zorn" kämen. Es gibt diese Art von Zorn, der für eine größere Sache brennt. Der heilige Zorn brennt für Gott und Gerechtigkeit auf Erden und benennt das Unrecht. Er nennt auch die Täter, richtet sich aber nicht gegen Menschen. Er ist ganz anders als der heutige politische Protest, der laut dem Philosophen Peter Sloterdijk häufig in reiner Wut gründet, die schnell ins Zerstörerische umschlagen kann.
Letztlich schafft es Steinmeier im Laufe seiner Wutrede die Demonstranten zu übertönen – nicht (nur) mit Gebrüll, sondern auch mit Argumenten: Die Welt bestehe nicht nur aus Friedensengeln und Bösewichten, wer den Frieden wolle, dürfe es sich nicht so einfach machen, ruft der Außenminister. Er tritt damit vehement für ein friedliches Europa ein, das aus den Kriegen gelernt hat und den Dialog nicht aufgeben will. Vielleicht war auch Steinmeier von diesem heiligen Zorn getrieben, der Kraft, die im Menschen den Sinn für Gerechtigkeit wachhält?
Von Agathe Lukassek