Theologe Wengst fordert: Das Neue Testament neu lesen lernen

Meine These: Im ersten Jahrhundert gab es noch kein "Christentum"

Veröffentlicht am 15.01.2023 um 12:00 Uhr – Lesedauer: 

Bonn ‐ Jesus war Jude. Alle Diskussionen der Evangelien und die Ausbreitung seiner Botschaft finden im Zusammenhang des Judentums seiner Zeit statt. Wir müssen daher lernen, das Neue Testament als jüdisches Dokument zu lesen, schreibt der Neutestamentler Klaus Wengst.

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Meine These: Es gab im 1. Jahrhundert noch kein "Christentum", also eine Gemeinschaft von Menschen, die sich unter dieser Bezeichnung als eine andere Religion im Unterschied zum Judentum verstanden hätte. Ein solches Christentum entsteht erst in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts.

Jesus wurde als Jude von einer jüdischen Mutter geboren. Sie trug den biblisch-hebräischen Namen Mirjam, der aramäisch Marjam ausgesprochen, griechisch zu Maria wurde. Der Knabe wurde am 8. Tag nach seiner Geburt beschnitten (Lk 2,21), wie es bis heute Brauch im Judentum ist. Bei dieser Gelegenheit erhielt er – ebenfalls Brauch bis heute – seinen Namen: Jeschu, gräzisiert und latinisiert "Jesus", Kurzform von Jehoschua ("Josua"). Als Erwachsener hat Jesus unter der jüdischen Bevölkerung im Land Israel gewirkt. Begegnungen mit nichtjüdischen Personen bleiben Ausnahmen. Nirgends wird berichtet, dass er eine der stark hellenisierten Städte wie Sepphoris oder Tiberias, Cäsarea am Meer oder Cäsarea Philippi betreten hätte, obwohl er sich in deren Nähe aufgehalten hat. Er ist als Jude gestorben, am Kreuz hingerichtet aufgrund einer Verurteilung durch den römischen Präfekten Pontius Pilatus. Alle vier Evangelisten erwähnen eine Aufschrift am Kreuz, die den Grund des Urteils angibt: "Jesus aus Nazaret, König der Juden". Der römischen Provinzverwaltung erschien er als Aufrührer, dem in ihren Augen zu viele folgten. Unmittelbarer Anlass für die Festnahme Jesu war, dass er nach Jerusalem zum Pessachfest reiste. Alle vier Evangelien stellen heraus, dass damit eine große Anzahl von zum Fest Gepilgerten messianische Erwartungen verband, indem sie ihn als Israels königlichen Messias begrüßten. Als der wurde Jesus hingerichtet.

Innerjüdische statt antijüdische Dispute

Alles, was Jesus nach den Evangelien sagt und tut, bewegt sich im Kontext des Judentums seiner Zeit. Nichts von dem, was er in den Evangelien sagt oder tut, führt über das Judentum hinaus oder aus ihm heraus. Was die Evangelien an Auseinandersetzungen schildern, sind innerjüdische Dispute – auch wenn verschiedene Texte von christlicher Seite als Aussagen gegen das Judentum interpretiert wurden und zum Teil immer noch werden (z.B. die sog. Antithesen, der Missionsbefehl oder einzelne Verse, mit denen sich Jesus vermeintlich vom Judentum abgrenzt).

In zentralen Fragen gibt es Übereinstimmung mit der pharisäischen Tradition. Das sieht man z.B. an der Frage nach dem höchsten Gebot: Das gilt als eine Zusammenfassung der gesamten Tora, als eine Leitlinie, gemäß der die Bibel zu verstehen und auszulegen ist. Nach Markus ist es "einer der Schriftgelehrten", der ihn nach "dem ersten aller Gebote" fragt. Jesus antwortet mit zwei Schriftstellen, mit Dtn 6,4–5, Gott ganz und gar zu lieben, und mit Lev 19,18, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. Der Schriftgelehrte stimmt ihm voll zu, nimmt aus dem ersten Schriftwort zusätzlich die Betonung der Einzigkeit Gottes auf, wiederholt das zweite und schließt daran noch an, das sei "um vieles mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer" (Mk 12,28–34). Lukas nennt in seiner Fassung den Gesprächspartner Jesu einen "Toralehrer", der ihn mit der Frage nach dem rechten Tun als Lehrer testen will. Jesus antwortet mit einer Gegenfrage: "In der Tora – was steht da geschrieben? Wie liest du sie?" Und hier ist es nun der Toralehrer, der das Doppelgebot der Liebe formuliert, und Jesus stimmt ihm zu. Gegenüber dem Gebot der Nächstenliebe liegt die Frage nahe: "Wer ist mein Nächster?" Sie stellt der Toralehrer und Jesus antwortet mit der Erzählung vom barmherzigen Samaritaner, die die Perspektive umdreht, indem es darum geht, selbst jemandem zum Nächsten zu werden, der in Not geraten ist (Lk 10,25–37).

Bild: ©KNA

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter als erzählerische Toraauslegung lesen.

Ganz entsprechend diskutieren Rabbinen über die Frage, was "eine große Zusammenfassung in der Tora" sei. Rabbi Akiva führt das Gebot an, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und fährt fort: "Damit du nicht sagst: Weil ich verachtet werde, soll auch mein Mitmensch verachtet werden." Was Akiva will, sehen Ben Asaj und Rabbi Tanchuma in einer anderen biblischen Aussage noch stärker eingeschlossen, nämlich in der von der Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 5,1; 1,27). Bildet sie die Hauptregel, kann die Frage, wer mein Nächster sei, gar nicht aufkommen. Sie ist immer schon beantwortet (BerR 24,7).

Nach den ersten drei Evangelien im Kanon ist Zentrum der Verkündigung Jesu, dass mit seinem Wirken das Reich, die Herrschaft Gottes anbricht: "Die Zeit ist um, der Zeitpunkt da. Das Reich Gottes ist nahegekommen. Kehrt um und vertraut der guten Botschaft!" So heißt es in Mk 1,14. Matthäus spricht – wie die Rabbinen – vom Himmelreich, von der Himmelsherrschaft. Bei ihm lautet die Verkündigung Jesu: "Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahegekommen." (Mt 4,17) Mit genau denselben Worten hatte Matthäus schon Johannes den Täufer auftreten lassen. (Mt 3,2)

Beide Beispiele zeigen: Mit Jesus verorten sich die Evangelisten innerhalb des Judentums.

Die Anhängerschaft Jesu nach seinem Tod: ausschließlich jüdisch

Mit seiner Hinrichtung dürfte Jesus für viele als erledigt gegolten haben. Auch für seine Anhängerschaft. Für sie blieb es aber nicht dabei. Einige kamen aufgrund bestimmter Widerfahrnisse, die im Bereich des Sehens lagen, zu der Überzeugung: Gott hat Jesus von den Toten aufgeweckt. Er hat an ihm getan, was umfassend erst für die Endzeit erwartet wird; er hat jetzt schon neuschöpferisch gehandelt. Das ist die grundlegende Aussage des Neuen Testaments. Ohne sie wäre nichts über Jesus überliefert worden und wir wüssten nichts von einem Jesus aus Nazaret. Auch das ist eine Aussage, die nur im Judentum gemacht werden konnte. Von den Sadduzäern entschieden abgelehnt, gab es in pharisäischer Tradition die Vorstellung von der Auferstehung der Toten am Ende der Zeit. Sie gründet in der Bündnistreue Gottes, der sich seine Bündnispartner auch durch den Tod nicht wegnehmen lässt. So wurde besonders von denen, die in der Verfolgungszeit unter Antiochus IV. im 2. Jh. vor unserer Zeitrechnung treu die Gebote der Tora einhielten und deshalb grausam umgebracht wurden, gesagt: Gott wird sie aufwecken. Der Tyrann soll mit seinem Morden nicht das letzte Wort behalten. Demgegenüber heißt es im Blick auf Jesus: Gott hat ihn aufgeweckt. Die Endzeit hat daher schon begonnen. Das ist das Neue am Neuen Testament! Aber auch diese Aussage ist eine jüdische Sprach- und Denkmöglichkeit. Diejenigen, die sie trafen und ihr zustimmten, hatten damit nicht das Selbstverständnis, sie wären nicht mehr jüdisch, sondern "christlich" und würden eine andere Religion vertreten. Sie bildeten eine Gruppe innerhalb des Judentums. Aufgrund dieser Aussage hielten sie Jesus für den erwarteten messianischen König und entdeckten im Rückblick in seinem Wirken schon messianische Züge.

Wer aus der nichtjüdischen Welt hinzukam: "Gottesfürchtige"

Für die weitere Entwicklung wurde es entscheidend, dass Menschen aus der Völkerwelt dazukamen. Wie geschah das? Nach der Darstellung der Apostelgeschichte gab es in Jerusalem auch griechisch sprechende jüdische Messias-Gläubige. Ihre herausragende Gestalt war Stephanus. Nach dem tumultartigen Lynchmord an ihm und weiterem Vorgehen gegen diese Gruppe – wohl durch sadduzäische Kreise, die mit der römischen Ordnungsmacht kooperierten – flüchteten zahlreiche ihrer Anhänger aus Jerusalem. Einige kamen nach Antiochia, der Hauptstadt der Provinz Syrien. Von ihnen sagt Lukas, dass sie dort auch griechisch sprechen-den Nichtjuden Jesus verkündigten (Apg 11,20). Sie werden das nicht auf dem Marktplatz getan haben, weil sie dort nicht verstanden worden wären. Es gab im Griechentum zwar eine Vielzahl von Salbungsriten, aber nicht wie im Judentum die Gestalt "des Gesalbten", des Messias. In Antiochia existierte eine große jüdische Gemeinde. So werden die aus Jerusalem Geflüchteten in deren Kommunikationszentrum, die Synagoge, gegangen sein. Wohin sonst? Sie erzählten dort von Jesus und verkündigten ihn als von Gott auferweckten königlichen Gesalbten, als den Messias.

Bild: ©andrea-goeppel.de

Auf dem antiken Straßennetz breitete sich von Jerusalem aus das Bekenntnis der Christus-Gläubigen im Römischen Reich aus.

Nun gab es in vielen Städten der Mittelmeerwelt mit jüdischen Gemeinden nichtjüdische Sympathisanten, die am Leben der jüdischen Gemeinde partiell teilnahmen und sie unterstützten, aber nicht konvertierten. Sie werden als "Gottesfürchtige" und "Gottesverehrende" bezeichnet. Auch sie hörten die messianische Verkündigung – und konnten sie dank ihrer jüdischen Vorbildung verstehen. Die Mehrheit in den Synagogengemeinden lehnte diese Verkündigung ab, weil von einer messianischen Veränderung der Welt nichts zu spüren war. Doch die messianischen Verkündiger waren charismatische Personen. Sie fanden in der Synagoge Menschen, die sie überzeugen konnten, Jüdinnen, Juden und Gottesfürchtige.

Wenn die Messiasgläubigen in synagogalen Versammlungen ihren besonderen Glauben zum Ausdruck brachten, kam es immer wieder zu heftigem Streit. Dessen war man offenbar müde und so pflegte man die eigene Besonderheit in zusätzlichen privaten Versammlungen. Damit ergab sich eine räumliche Trennung aus pragmatischem Grund. Aber das war keine grundsätzliche Trennung vom Judentum. Dass die jüdischen Mitglieder der messiasgläubigen Versammlungen ihre Teilnahme daran nicht etwa als einen "Austritt" aus der Synagogengemeinde und damit aus dem Judentum verstanden, wird am Beispiel des messiasgläubigen jü-dischen Ehepaars Priska und Aquila deutlich. Aus Rom kommend, hatten sie sich in Korinth niedergelassen. Danach zogen sie nach Ephesus. Dort trafen sie den aus Alexandria kommenden messiasgläubigen Juden Apollos. Sie trafen ihn selbstverständlich in der Synagoge (Apg 18,2.18–19.24–26). Die nichtjüdischen Mitglieder werden sich weiterhin als Gottesfürchtige verstanden haben, hinzugekommen zu Israels Gott, dessen Wirken sie nun auch und besonders im Messias Jesus erkannten.

Streit innerhalb der messiasgläubigen Gemeinschaft

Dass die nichtjüdischen Hinzugekommenen gleichberechtigt mit den jüdischen Mitgliedern zusammenlebten, führte zum Streit. Nach der jüdischen Tradition gibt es volle Zugehörigkeit nur durch Integration in das Volk Israel und also die Verpflichtung auf die Tora mit allen ihren Geboten. Und das hieß für Männer, dass sie das Bundeszeichen der Beschneidung über-nehmen mussten. Diese Forderung erhoben Abgesandte der messiasgläubigen Gemeinde in Jerusalem gegenüber den Hinzugekommenen in der Gemeinde in Antiochia (Apg 15,1). Hier ist zunächst zu betonen: Es ging ausschließlich um die Frage der Beschneidung von Nichtju-den. Dass jüdische Messias-Gläubige ihre neugeborenen Knaben am achten Tag zu beschneiden hätten, wurde von niemandem in Frage gestellt. Warum verhielt sich die messiasgläubige Gruppe in Antiochia gegenüber der klassischen jüdischen Position anders und womit konnten Paulus und Barnabas als Abgesandte der Antiochener beim Konvent in Jerusalem die anderen überzeugen? Grundlegend waren überwältigende Erfahrungen, die als Wirken von Gottes Geisteskraft verstanden wurden. Man sah sich schon vollziehen, was Joel 3 verheißt: Gott gießt in der Endzeit seine Geisteskraft über "alles Fleisch" aus. Dann kommen die Völker der Welt zu Israels Gott als dem einen und lernen von ihm (Jes 2,2–4; Mi 4,1–3). Als von Gott selbst Gerufene bleiben sie, was sie sind, und müssen nicht in Israel integriert werden. Das sieht man nun geschehen: Die auf Jesus bezogene Botschaft zieht Menschen aus der Völkerwelt an.

Die Beschneidung eines jüdischen Jungen in einer Synagoge.
Bild: ©picture alliance/APA/picturedesk.com/BEA KALLOS

Die Beschneidung ist bis heute fester Bestandteil des Judentums.

Das Jahr 70 bedeutet mit dem Ende des jüdisch-römischen Krieges einen tiefen Einschnitt für das Land Israel und auch für das Judentum der Diaspora. Durch die Eroberung Jerusalems durch die römischen Legionen wurde der Tempel zerstört, das zentrale, das einzige Heiligtum des Judentums. An ihm wurden nicht nur die in der Tora vorgeschriebenen Riten durchgeführt, die neben der religiösen Funktion auch für das soziale Miteinander wichtig waren. Außerdem war der Tempel durch die drei jährlichen Wallfahrtsfeste für die Juden im Land Israel und in der Diaspora der Kommunikationsort schlechthin. Wie sollte jüdisches Leben jetzt wei-tergehen? Es gab Gruppen, die keine Zukunftsperspektive sahen. Die Sadduzäer hatten in jeder Hinsicht vom Tempel gelebt. Mit seiner Zerstörung war ihre religiöse und ökonomische Basis verlorengegangen. Auch von den Essenern hören wir nach der Zerstörung des Tempels nichts mehr.

Es waren pharisäische Lehrer, die jüdisches Überleben und Weiterleben ermöglichten. Im Pharisäismus hatte man schon beim Bestehen des Tempels auf ihn bezogene Vorschriften in das alltägliche Leben hinein ausgelegt und praktiziert. So waren die Pharisäer prädestiniert, das angesichts des zerstörten Tempels nun in größerem Ausmaß zu tun. Sie taten das in Auslegung der Tora und der übrigen heiligen Schriften, im Diskurs und im Vertrauen auf die Unerschöpflichkeit der Schrift, die immer mehr als eine Auslegung zulässt, ja herausfordert. Diese pharisäischen Lehrer wollten nicht mehr Partei sein und führten auch nicht mehr diesen Namen. Sie wollten die Überlebenden der Katastrophe integrieren.

Eine verhängnisvolle Deutung der Kriegsereignisse

Neben ihnen erwiesen sich die Messiasgläubigen als überlebensfähig. Zwischen ihnen und dem sich nun herausbildenden rabbinischen Judentum kam es zu heftiger werdendem Streit. Der erfolgte zwar immer noch innerjüdisch. Aber es zeigten sich Bruchstellen. Das sei am Matthäus- und Johannesevangelium skizziert.

Aus der Sicht der jüdischen Mehrheit ließen sich die Messiasgläubigen nicht integrieren, weil sie für den Messias Jesus einen exklusiven und absoluten Anspruch erhoben. Diesen Anspruch konnten die anderen nicht akzeptieren. In diesem Zusammenhang findet sich bei Matthäus eine problematische Geschichtskonstruktion. Er deutete das katastrophale Ergebnis des jüdisch-römischen Krieges als Strafe Gottes für die Ablehnung des Messias Jesus. Das zeigt sich an seiner Fassung des Gleichnisses vom großen Gastmahl, das bei ihm zum Hochzeitsmahl des Königssohnes wird (Mt 22,1–10). Die zuerst Eingeladenen kümmern sich nicht um die Einladung, einige bringen sogar die Boten des Königs um. Zwischen dem schon fertig zubereiteten Mahl und der erneuten Einladung an andere findet ein ganzer Kriegszug statt, in dem der erzürnte König "seine Heere ausschickte, jene Mörder umbringen und ihre Stadt verbrennen ließ". Und Matthäus lässt bei der Verhandlung gegen Jesus vor Pilatus die gesamte anwesende jüdische Volksmenge rufen: "Sein Blut komme auf uns und unsere Kinder!" (Mt 27,25) Das sieht er durch den Krieg von Gott her als vollzogen an.

Bild: ©picture alliance / Heritage-Images / Fine Art Images

Matthäus lässt bei der Verhandlung gegen Jesus vor Pilatus die gesamte anwesende jüdische Volksmenge rufen: "Sein Blut komme auf uns und unsere Kinder!" (Mt 27,25)

Im Johannesevangelium wechseln für die Personen im selben Zusammenhang die Bezeichnungen "die Juden" und "die Pharisäer". Das Judentum erscheint damit als ein pharisäisch bestimmtes, wie es sich nach 70 unserer Zeitrechnung herausgebildet hat. Sie sind die Gesprächspartner Jesu. Ihnen gegenüber setzt dieser öfter voraus, dass sie Gott kennen. Es geht selbstverständlich um den in Israel bezeugten und bekannten Gott. Dann aber bestreitet der Evangelist ihnen jedwede Kenntnis Gottes, die ihn nicht in Jesus erkennen (vgl. z.B. Joh 8,12–20). Die jüdische Mehrheit begegnet dieser Absolutsetzung mit distanzierenden Maßnahmen (Joh 9,22; 12,42; 16,2). Hiermit lassen sich die rabbinischen Aussagen über Häretiker in Zusammenhang bringen. Sie sehen Maßnahmen sozialer Isolierung und wirtschaftlicher Boykottierung vor.

Somit sind Bruchstellen deutlich angezeigt. Sie werden dazu führen, dass die messianischen Gemeinden für Jüdinnen und Juden weniger attraktiv erscheinen. Ihr Anteil in ihnen wird immer geringer werden, damit auch derjenige der Gottesfürchtigen, während der Anteil derer aus der Völkerwelt, die keine Beziehung zum Judentum und damit auch kaum Kenntnis von ihm hatten, zunehmen wird. Das führt am Beginn des 2. Jahrhunderts zur Entstehung des Christentums, das seine Identität im Gegensatz zum Judentum bestimmt.

Zusammenfassung

Jesus war Jude und blieb es. Mit ihm beginnt nicht das Christentum. Auch nicht mit dem Glauben an seine Auferweckung. Der ist jüdisch, wie es auch die meisten neutestamentlichen Schriften von Haus aus sind. Der Streit mit anderen jüdischen Gruppen war ein innerjüdischer. Das blieb er noch in der Situation nach dem jüdisch-römischen Krieg (66–70). Hier erst deuten sich Bruchstellen an.

Von Klaus Wengst

Der Autor

Prof. Dr. Klaus Wengst ist pensionierter Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Zahlreiche Publikationen u.a. zum Johannes- und Matthäusevangelium, zu Paulus, der Offenbarung des Johanens und der Jesusforschung – immer aus der Perspektive des jüdisch-christlichen Dialogs sowie unter Einebzug sozialgeschichtlicher Fragestellungen.

Hinweis

Dieser Artikel erschien zuerst in Bibel und Kirche 4/2022, der Zeitschrift zur Bibel in Forschung und Praxis.

Die auflagenstärkste deutschsprachige Fachpublikation zur Heiligen Schrift erscheint viermal im Jahr und informiert über aktuelle Diskussionen. "Bibel und Kirche" ist die Mitgliedszeitschrift der katholischen BIbelwerke in Deutschland, Österreich und der Schweiz.