Was heißt denn fromm? Philosoph Zaborowski über verlorenen Begriff
Woran denken Sie beim Wort "fromm"? Es ist ein aussterbender Begriff. Zurecht mag mancher denken. Ist er doch inzwischen eher negativ konnotiert und scheint nicht mehr recht in unsere Zeit zu passen. Im Interview spricht der Philosophie-Professor der katholisch-theologischen Fakultät der Uni Erfurt, Holger Zaborowski, darüber, ob die Frömmigkeit noch zu retten ist.
Frage: Herr Professor Zaborowski, mein Eindruck ist, das Wort "fromm" ist etwas in Verruf geraten, auch unter Christen. Täusche ich mich?
Zaborowski: Man hört das Wort heute in der Tat nur noch sehr, sehr selten. Eine Ursache ist sicher, dass der Glaube nicht mehr so selbstverständlich ist wie früher und religiöse Praxis aus unserem Alltag zunehmend verschwindet. In Verruf gebracht haben den Begriff aber wohl eher bestimmte problematische Ausprägungen, die es oft gegeben hat und immer noch gibt: allen voran das Frömmelnde. Also eine sehr äußerliche, fast zwanghafte Form von religiöser Praxis, die innerlich nicht gefüllt ist, gern garniert mit einem kritisch-abschätzigen Blick auf jene, die man für nicht fromm hält, von denen man sich absetzt oder die man sogar erziehen möchte.
Frage: Früher war das anders, wie auch viele Sprachbeispiele zeigen: Etwas frommt – es nützt. Im Mittelhochdeutschen hatte es auch die Bedeutung "tüchtig" und "rechtschaffen". Woher rührt nun aber das Unbehagen, das uns erfasst, wenn heute jemand fragt: Bist Du fromm?
Zaborowski: Das hat vermutlich zum einen mit der gerade geschilderten Ambivalenz des Begriffs an sich zu tun, aber auch der Ambivalenz des Religiösen in der heutigen Gesellschaft. Wir haben ein wachsendes Unbehagen gegenüber der Religion aufgrund der zahlreichen Probleme: Kirchenkrise, Missbrauchsskandal ... Dadurch wird eine bestimmte Haltung, die mit Religion verbunden wird, eben auch überschattet und negativ konnotiert.
Frage: Geht Glaube ohne Frömmigkeit?
Zaborowski: Ich glaube, das ist schwierig, weil schon eine ganz große Nähe zwischen beidem besteht. Frömmigkeit meint ja eine Praxis, eine Glaubenspraxis: Bete ich, gehe ich in die Kirche, tue ich sogenannte Werke der Barmherzigkeit, übe ich Nächstenliebe? Insofern gibt es den christlichen Glauben nicht ohne Frömmigkeit. Denn im Christentum ist Glaube immer ein inkarnierter Glaube – ein sich in der Wirklichkeit niederschlagender, gegenwärtig werdender Glaube.
Das Christentum ist nämlich nicht bloß ein Weltbild, sondern eine Lebensweise. Und das, was diese Lebensweise beschreibt, ist eigentlich die Frömmigkeit. Es geht im Prinzip darum, dass ich nicht nur sage: "Ich glaube an Gott", sondern dieser Glaube, das Verhältnis zu Gott hat auch Konsequenzen. Und fromm zu sein zeigt sich dann in der Weise, wie ich lebe, wie ich anderen begegne, wie ich mein Leben im Angesicht Gottes gestalte.
Frage: Hm, klingt noch ein bisschen abstrakt. Lässt sich diese Frömmigkeit zeitgemäß erklären?
Zaborowski: Dafür könnten wir vielleicht erst einmal auf eine geschichtliche Wurzel der Frömmigkeit schauen: die römische Pietas, die Ehrfurcht, letztlich die Anerkennung einer vorgegebenen Ordnung. Und diese Ehrfurcht muss man nicht nur auf Gott allein beziehen, sondern kann das weiten: So ist beispielsweise Ehrfurcht vor der Schöpfung, vor der Natur auch eine Art von Frömmigkeit. Das wiederum hätte gravierende Konsequenzen in der Debatte um Ökologie, um den Klimawandel. Ein frommer Mensch verhält sich in einer gewissen Weise zur Natur, zeigt Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung.
Frage: Das muss dann ja auch auf das Verhalten gegenüber den Mitmenschen hin gelten, oder?
Zaborowski: Genau. Als frommer Mensch verhalte ich mich ehrfürchtig und respektvoll gegenüber dem Anderen, dem Kranken, dem Leidenden, dem Armen. Ich glaube, wenn man Frömmigkeit so versteht, dann eröffnet das einen ganz neuen Zugang zu Frömmigkeit, die dann sehr gut in unsere Zeit passt. Und man kann damit einen neuen Akzent setzen – gerade jenseits des Frömmelnden. Denn das wirklich Fromme bewahrt letztlich davor, frömmelnd zu werden.
Frage: Das Frömmelnde ist ja im Grunde rein Ich-bezogen, während Frömmigkeit, wie Sie sie beschreiben, auf Beziehung ausgerichtet ist.
Zaborowski: Ja, Frömmigkeit ist Beziehungspflege. Letztlich ist es eine soziale Tugend, eine soziale Verhaltensweise oder Haltung. Ich trete auf eine bestimmte Art in Beziehung zu Gott, zu mir, zu meiner Umwelt – begegne allem auf eine gute, ehrfürchtige, angemessene, rechtschaffene Art, denn das sind ja alles Bedeutungsaspekte des Wortes 'fromm'. Das kann natürlich immer auch kippen und oberflächlich werden, aber eigentlich zielt es auf eine sehr tiefe, echte Begegnung.
Frage: Spiritualität gilt heutzutage als angesagt und hipp – was unterscheidet "spirituell" von "fromm"?
Zaborowski: "Spirituell" ist ein sehr diffuser Begriff, eine Art Oberbegriff für alle Formen von religiösem, manchmal auch ersatz-religiösem Verhalten. Ich kann spirituell sein, ohne an Gott zu glauben. Frömmigkeit hingegen ist, auch durch ihre Bindung an die christliche Tradition, konkreter. Dahinter steht immer ein bestimmtes Gottesverständnis: Dass Gott mich selbst anspricht, dass er mich herausfordert und ein bestimmtes Verhalten – etwa gegenüber anderen – von mir einfordert. Zugleich ist Frömmigkeit weitgreifender als Spiritualität.
Frage: Wie meinen Sie das?
Zaborowski: Frömmigkeit ist ein Grundhaltung, die alles, was wir tun, irgendwie begleiten sollte. Christliche Existenz bedeutet ja nicht, dass ich hier und da mal meine spirituellen Momente habe. Vielleicht liegt da auch eine Erklärung für die Krise der Frömmigkeit heute, dass man es reduziert hat: 'Fromm bin ich am Sonntag, und Montag ist dann wieder der Alltag.'
Frage: Beim Philosophen Martin Heidegger heißt es: "Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens". Gibt es auch eine säkulare Form von Frömmigkeit?
Zaborowski: Ja, auf jeden Fall. Denn ursprünglich steht Frömmigkeit nicht in einem religiösen Kontext, sondern ist viel weiter gefasst – wie die eingangs erwähnten Sprachbeispiele ja auch zeigen. Erst ab dem frühen 16. Jahrhundert hat sich Frömmigkeit begriffsgeschichtlich immer mehr auf Religion fokussiert.
Heidegger meint mit der Formulierung zum einen, dass Fragen dasjenige ist, was dem Denken frommt – ihm nutzt. Vielleicht ist es aber auch eine kleine polemische Spitze gegen eine Frömmigkeit, für die alle Fragen immer schon geklärt sind. Also letztlich eine frömmelnde Frömmigkeit, die nur in ihrer Blase lebt und nicht mehr in den Dialog tritt.