100 Jahre Disney oder: Wie aus Gott die gute Fee wurde
An wen muss man sich wenden, wenn man eine Bitte für sein Leben oder das eines anderen hat? In Disneyfilmen hat sich die Antwort auf diese Frage in sehr kurzer Zeit gewandelt. Und das sogar noch zu Lebzeiten von Walt Disney.
Wenn man über den Glauben in Disney-Filmen spricht, sollte man sich zunächst Walt Disney selbst zuwenden, dessen Ideale die Filme bis heute prägen. Disney gehörte der Congregational Church an, einer calvinistisch orientierten Kirche. Seine Kinder gingen zur Sonntagsschule und er selbst sagte einmal über sich: "Alles, was ich von mir erwarte, ist es, ein gutes, christliches Leben zu führen". Es wird aber über ihn berichtet, dass er auch anderen Religionen sehr offen gegenüberstand. Den Hang, die Gesetze der Kirche nicht zu streng zu nehmen, hatte er vielleicht, weil sein Vater gewalttätig wurde, wenn sich seine Kinder nicht an religiöse Vorschriften gehalten haben. Dieser offene, nicht-regelgeleitete Umgang mit Religion spiegelt sich auch in seinem Unternehmen wieder.
"Bitte lass meine Träume wahr werden. Amen."
Beginnen wir im Jahr 1937. Hier wurde "Schneewittchen", der erste abendfüllende Zeichentrickfilm, zu Disneys Durchbruch. In diesem Film gibt es eine Szene, die wir so aus aktuellen Disneyfilmen nicht mehr kennen: Bevor Schneewittchen zu Bett geht, betet sie und geht dafür auf die Knie, ihre Augen sind auf das Fenster gerichtet: "Beschütze die sieben kleinen Männer, die so freundlich zu mir waren. Und bitte, bitte lass meine Träume wahr werden. Amen." Auch, wenn hier nicht deutlich wird, an wen sie sich wendet, so kann man durch das Amen am Schluss doch vom christlichen Gott ausgehen.
Der nächste große Disneyfilm erscheint drei Jahre später. In "Pinocchio" ist von Gott, der einen Wunsch erfüllt, auch implizit schon keine Rede mehr. Die ganze Ikonografie des Gebetes bleibt aber dieselbe wie bei Schneewittchen. Gepetto wünscht sich einen lebendigen Sohn. Auch er nimmt eine betende Pose ein, geht auf die Knie, faltet seine Hände und richtet den Blick auf das Fenster, durch das der Mond hineinscheint. Aber er richtet seinen Wunsch nicht an Gott, sondern spricht direkt zu einem Wunschstern. Der Stern erfüllt den Wunsch durch eine gute Fee, die Pinocchio mit einem Zauber lebendig macht. Die Melodie des Liedes, welches diesen Vorgang untermalt ("When you wish upon a star") wird zum musikalischen Markenzeichen von Disney.
Und so wie das Lied zum Markenzeichen wurde, wurde es auch zum Markenzeichen der Disney-Erzähltradition, sich etwas bei einem Stern zu wünschen und/oder von einer guten Fee zu bekommen (in verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten).
Das "Gebet" an einen Wunschstern
Auch später funktionieren Wünsche in Disney-Filmen so: Man muss an den Wunschstern oder die gute Fee glauben, damit ein Wunsch in Erfüllung geht und auch selbst an der Erfüllung arbeiten. Pinnocchio muss, um ein Junge zu bleiben, lernen, ein Gewissen zu haben und danach zu handeln. Der Calvinist Disney hat ein sehr katholisches Verständnis: Für seine Erlösung muss man glauben, aber auch etwas tun. In späteren Filmen wird dieser Aspekt sogar noch etwas ausgeweitet und man muss für seine Wunscherfüllung hart arbeiten. So heißt es in "Küss den Frosch" (2009) zwar noch: "Der Abendstern ist hell und klar, jetzt wünsch dir was, dann wird es wahr, vielleicht in dieser Nacht sogar, du musst nur fest dran glauben." Doch hier wird deutlich, dass Gottes Wege unergründlich und selten geradlinig sind, denn als Tiana den Frosch küsst wird dieser nicht zum Prinzen, sondern sie selbst zum Frosch. Für die Erfüllung ihres Traumes, ein eigenes Restaurant, hilft ihr zwar eine glückliche Fügung, aber sie muss auch selbst genügend Geld verdienen.
Die meisten Disneyfilme spielen in traditionell christlichen Kulturkreisen. Das Christentum wird dort meist nicht explizit thematisiert. Doch auch hier werden immer christliche Werte wie Nächstenliebe, Hoffnung und Barmherzigkeit vermittelt. Wo die Handlung in anderen Kulturen spielt, kommen die dort vorherrschenden spirituellen Prägungen deutlicher ans Licht: In "Pocahontas" (1995) kann man den Animismus der amerikanischen Ureinwohner erkennen, die Natur lebt. Bei "Hercules" (1997) geht es um griechische Götter, bei "Vaiana" (2016) um den Glauben der Maori.
Der "Glöckner von Notre Dame" als einziger explizit katholischer Disneyfilm
Ein Film in dem es dann nochmal ganz explizit um das Christentum im Allgemeinen und den Katholizismus im Besonderen geht, ist "Der Glöckner von Notre Dame" (1996), die Verfilmung des Klassikers von Victor Hugo. Tatsächlich geht es in dem Disneyfilm aber viel glimpflicher für die Kirche aus als im Original: Claude Frollo ist in beiden Werken der Antagonist. Er fühlt sich körperlich zu Esmeralda hingezogen, will dem Gefühl aber widerstehen, da er es für eine Sünde hält. "Ein Feuer der Hölle aus tiefem Höllenschacht. Ein Schritt nur zur Schwelle, der mich zum Sünder macht". Vor allem aber fällt er auch durch seine Grausamkeit anderen gegenüber auf. Er sieht den Glöckner von Notre Dame wegen seiner Behinderung als nicht lebenswert und nicht als Geschöpf Gottes.
Hier kommt aber der Twist: Ist Frollo in Victor Hugos Buch ein Geistlicher, so ist er eben dies im Disneyfilm nicht, sondern ein weltlicher Richter. Der Priester im Disneyfilm ist zuvorkommend, tolerant und rettet sowohl Quasimodo als auch Esmeralda das Leben, indem er sie in der Kirche aufnimmt. Esmeralda selbst betet zu Gott: "Ich weiß nicht, ob du es hören willst und ob es dich auch gibt. Ich weiß nicht, ob so ein Gott auch Zigeuner wie mich liebt. Ausgestoßen und geächtet gehören wir nicht dazu. Doch ich seh’ in deinen Augen, ausgestoßen warst auch du." Auch hier wird die Inklusivität der Kirche beschrieben. Am Ende ist die Kirche im Disneyfilm, anders als im Buch, ein sicherer Hafen für jeden Menschen und der Einzige, der Religion intolerant auslegt, ist der Bösewicht.
Interessant ist in diesem Film sicher auch, dass viele Anspielungen auf die Liturgie gar nicht von Kindern verstanden werden können. So heißt es in einem Lied immer wieder "Mea Culpa". In Disney-Filmen gibt es oft Passagen, die nur Erwachsene verstehen, damit auch sie sich im Kino mit ihren Kindern nicht langweilen. Beim Thema Religion scheint das hier mit einigen lateinischen Passagen beinahe auf die Spitze getrieben.
Religiöse Toleranz nur, solange es finanziell nicht schadet
Gibt es zu Disneys Umgang mit Religion also nur Positives zu berichten? Hier lohnt sich in jedem Fall noch ein Blick auf die wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens. Dass das Christentum in "Der Glöckner von Notre Dame" so viel positiver dargestellt wird, als in Victor Hugos Buch, kann auch darauf begründet sein, christliche Zuschauer nicht verprellen zu wollen. Auffällig ist, dass Disney überall dort tolerant ist, wo die Religion nicht den Einspielergebnissen schadet. In der Nazizeit gab es keinen Film, in dem das Judentum positiv dargestellt wurde – im Gegenteil. Mittlerweile gibt es sympathische, jüdische Charaktere, wie Kronk aus "Ein Königreich für ein Lama" (2000). Dafür hat es der Islam nun schwer. Schon im Aladdin-Film aus dem Jahr 1992 kommt er kaum vor und wenn, dann negativ. Der Rat für amerikanisch-islamische Beziehungen warnt hier sogar vor Islamophobie. In der Neuverfilmung aus dem Jahr 2019 wurde der Islam auch nicht positiv dargestellt – er wurde einfach ganz weggelassen.
Man kann also sagen, dass mit Religion in Disneyfilmen allgemein sehr kreativ und wenig regelgeleitet umgegangen wird – aber nur solange es der Firma finanziell hilft und nicht schadet.