Bernhard Deister über die Spiritualität

Mainzer Institutsleiter: Gott wahrnehmen, spüren, spürbar machen

Veröffentlicht am 12.02.2023 um 12:10 Uhr – Lesedauer: 

Mainz ‐ Spirituelle Menschen leben im gleichen Alltag wie alle anderen – sie haben aber eine besondere Perspektive darauf. Institutsleiter Bernhard Deister sagt im Interview, was Spiritualität im Leben bedeutet, aber auch wie sie missbraucht werden kann.

  • Teilen:

Bernhard Deister (53) leitet das im August 2022 neu gegründete Institut für Spiritualität im Bistum Mainz. Der promovierte katholische Theologe und Diplompsychologe spricht im Interview darüber, was Spiritualität eigentlich ist und welche Folgen spirituelle Gewalt haben kann.

Frage: Herr Deister, das Institut für Spiritualität hat seinen Sitz in Mainz an einer sinnbildlichen Adresse: der Himmelgasse 7. Wie erklären Sie jemandem auf der Straße, was Spiritualität ist?

Deister: Es ist die Freude über die Begegnung mit dem Anderen, die Haltung "Schön, dass du da bist" – und dass ich spüre, dass Gott das auch über uns denkt. Als spiritueller Mensch versuche ich, Gott wahrzunehmen, zu spüren und spürbar zu machen.

Frage: Bücher zum Thema Spiritualität verkaufen sich gut. Ist jeder Mensch spirituell?

Deister: Ja. Ich bin überzeugt davon, dass das Gespür dafür, dass es mehr gibt als nur das Sichtbare, Greifbare und Verstehbare, in uns Menschen angelegt ist.

Frage: Wenn Sie aktuell in der Ukraine leben würden, wäre es dann schwerer, ein spiritueller Mensch zu sein?

Deister: Nicht schwerer, aber anders. In meinem Leben hatte ich nicht den Eindruck, dass schmerzliche oder erschütternde Erfahrungen mir den Gottesbezug genommen haben. Auch da hatte ich das Gefühl: Da ist eine Kraft, die größer ist als ich, die mich trägt und behütet. Davon geben auch viele Menschen Zeugnis, die Krieg erlitten haben.

Frage: Muss man als spiritueller Mensch Gott spüren? Genügt es nicht, überzeugt zu sein, dass es Gott gibt?

Deister: Ich glaube, dass religiöses Empfinden und theologisches Denken zusammenkommen müssen. Aber es gibt Menschen, deren Zugang eher über den Intellekt geht, und bei anderen eher über das Emotionale. Damit der Glaube Kraft hat und überzeugen kann, braucht es aus meiner Sicht beides.

Bild: ©David Heidenreich

Spiritualität lebt davon, eine Verbindung zu sich und zu Gott zu entwickeln.

Frage: Viele Menschen suchen Kraft und Halt in fernöstlichen Praktiken, etwa in buddhistischer Zen-Meditation oder in Yoga. Eine Konkurrenz zu christlicher Spiritualität?

Deister: Um ganz ehrlich zu sein, halte ich den dreifaltigen Gott für unüberbietbar und konkurrenzlos. Ein Gott, der Mensch wird. Zu dem ich "Du" sagen kann. Und ein Gott, der bereit ist, für mich zu sterben.

Frage: In kontemplativen Exerzitien – also Schweigeübungen – wird die Aufmerksamkeit nicht auf biblische Texte, sondern auf den Namen "Jesus Christus" ausgerichtet. Wie funktioniert dieses "Herzensgebet"?

Deister: Dieses Beten ist schon in den Anfängen der Kirche entstanden und in der Form sehr einfach: mit dem Ausatmen innerlich "Jesus" sagen und mit dem Einatmen "Christus". Der schwierigere Punkt ist, nicht mit den Gedanken abzuschweifen, sondern ganz im Hier und Jetzt zu bleiben.

Frage: Wie lange übt man so etwas?

Deister: Der Jesuit Franz Jalics (1927-2021), einer meiner geistlichen Lehrer, meinte mal: "40 Jahre braucht man schon." Nein, im Ernst: Fünf bis zehn Tage umfassen die meisten Exerzitien dieser Art. Nach einer gewissen Zeit geht es nicht mehr darum, diesen Namen zu denken, sondern ihn so mit dem Atem verbunden zu haben, dass es mehr ein Lauschen auf diesen Namen ist.

Frage: Das Institut für Spiritualität bietet als Nachfolgeeinrichtung des inzwischen geschlossenen Kardinal-Volk-Hauses (Bingen) auch Exerzitien an, in denen über lange Strecken geschwiegen wird. Wer nimmt daran teil?

Deister: Wir freuen uns, dass ganz unterschiedliche Menschen kommen: Mitarbeitende aus Pastoral und Caritas, junge Mütter oder Hausfrauen ebenso wie Beschäftigte aus zum Teil auch großen Unternehmen, die eine Unterbrechung und Neuausrichtung suchen.

Frage: Befinden sich spirituelle Menschen auf einer höheren Bewusstseinsstufe, auf der sie das Göttliche besser verstehen?

Deister: Ja, aber nicht in einem esoterischen Sinne, sondern insofern, als sie damit rechnen, dass es eine Dimension gibt, die alles Messbare und Beweisbare übersteigt und trotzdem Gott in allem Irdischen mit dabei ist. Jesus hatte eine besondere Wertschätzung für die "Kleinen". Manchmal haben ganz einfache Menschen, die noch nie Exerzitien gemacht haben, einen sehr lebendigen und festen Glauben, und mancher "Fromme" strahlt wenig von Gottes Liebe aus.

Frage: Kann Spiritualität auch missbraucht werden?

Deister: Leider ja. Wo Menschen sich anderen anvertrauen, kann Vertrauen missbraucht werden. Wenn die spirituelle Selbstbestimmung eines Menschen verletzt wird, ist das geistlicher Missbrauch. Priester oder geistliche Begleitende können durch ihre Autorität Menschen missbrauchen, wenn sie über die spirituelle Selbstbestimmung des Menschen hinweggehen und Fügsamkeit und Gehorsam verlangen.

Frage: Was sind die Folgen spiritueller Gewalt für Betroffene?

Deister: Leider nicht nur eine zwischenmenschliche Enttäuschung, dass jemand nicht gut mit mir umgegangen ist, sondern oft auch eine Erschütterung in der je eigenen Beziehung zu Gott und zur Kirche. Das kann soweit gehen, dass Menschen ihren Glauben verlieren.

Frage: Ist der Kirchenaustritt dann die logische Folge?

Deister: Für manche ja, wobei die Wunden auch dann bleiben. Viele kommen innerlich nicht zur Ruhe, auch wenn Abgrenzung ein wichtiger Schritt sein kann. Eine besonders perfide Folge drückt sich darin aus, dass Betroffene sagen: "Das, was mir das Kostbarste war – mein christlicher Glaube –, ist mir vergiftet worden." Diese Menschen sagen gerade nicht: "Ich finde jetzt im Buddhismus oder in der Zen-Lehre das, was ich brauche". Vielmehr ist ihr Herzensthema beschädigt worden.

Frage: Was tun Sie in solchen Fällen?

Deister: Als Erstes bieten wir Betroffenen einen geschützten Rahmen für Gespräche an. Wir ermutigen, der eigenen Wahrnehmung wieder zu trauen und die "vergifteten" Begriffe von Ballast zu befreien. So ist für jemanden, der unter der Bezeichnung "Wille Gottes" dazu gedrängt wurde, sich über die eigenen Grenzen hinaus zu verausgaben, dieser Begriff negativ besetzt. Diese Person wird nur mit Mühe oder gar nicht mehr das "Vaterunser" beten können - und darin bitten, dass "Dein Wille geschehe". Dabei ist der Wille Gottes das Beste, was uns geschehen kann.

Frage: Geht spirituelle Gewalt sexuellem Missbrauch im Raum der Kirche voraus?

Deister: Sexualisierte Gewalt setzt ein Abhängigkeitsverhältnis voraus. Und wo Gewalt im Raum von Kirche geschieht, ist das stets auch ein Missbrauch spirituellen Vertrauens. Je mehr Menschen eigenständig, aber in Gemeinschaft ihre Spiritualität entwickeln, desto weniger sind sie gefährdet.

Von Norbert Demuth (KNA)