Betroffene in Gemeinden ausgegrenzt

Missbrauchsstudie im Bistum Essen: Über 400 Fälle und 200 Täter

Veröffentlicht am 14.02.2023 um 12:04 Uhr – Lesedauer: 

Essen ‐ Die Untersuchung von Missbrauchsfällen im Bistum Essen wurde veröffentlicht: Seit der Gründung des Ruhrbistums sind über 400 Fälle und 200 mutmaßliche Täter bekannt. In den Gemeinden konnten Betroffene keinen Rückhalt finden – im Gegenteil.

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In den 65 Jahren seit der Gründung des Bistums Essen sind der Diözese 423 Meldungen von Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt bekannt geworden. Das geht aus Zahlen hervor, die das Bistum anlässlich der Vorstellung der sozialwissenschaftlichen Studie zur wissenschaftlichen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute veröffentlicht hat. Für die Studie zeichnet das Münchener Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) verantwortlich. Hinweise auf beschuldigte Personen gehen laut den Zahlen des Instituts hauptsächlich auf Meldungen zurück: Gut 55 Prozent der Beschuldigten wurden nur aufgrund von Meldungen bekannt, gut 43 Prozent waren auch in den Personal- und Geheimakten zu finden. Tatorte sind hauptsächlich Kirchengemeinden und Heime, aber auch Schulen und Jugendarbeit. Der Tatzeitpunkt der ersten bekannten Tat eines Täters liegt vor allem in den 1950er- bis 1970er-Jahren.

Die Forscher stellten fest, dass das Bistum bis 2010 nur unzureichend auf Verdachtsmomente reagiert hatte. Versetzungen von Beschuldigten an andere Dienststellen und in andere Bistümer waren üblich, so dass Tätern oft weiterhin Kontakt zu Kindern und Jugendlichen möglich war. Eine Bemühung, Betroffene zu unterstützen oder zu begleiten, konnte die Studie nicht feststellen. In Kirchengemeinden waren Betroffene häufig  Anfeindungen schutzlos ausgeliefert.

Bischof Franz-Josef Overbeck
Bild: ©Bistum Essen/Alexandra Roth (Archivbild)

Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck.

Erst ab 2010 sei ein hartes Durchgreifen gegen beschuldigte Kleriker festzustellen. Es habe zwar ein institutionelles Schuldgefühl gegeben, aber immer noch habe eine grundlegende Haltung gefehlt. Die Forscher bemängelten außerdem, dass es nach wie vor kein Konzept für den Umgang mit straffälligen Klerikern gibt.

Overbeck kündigt weitere Anstrengungen an

In einer ersten Stellungnahme zeigte sich Bischof Franz-Josef Overbeck betroffen von den Ergebnissen. Auf bedrückende Weise zeige sich, wie sehr die Strukturen seines Bistums sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten begünstigt hätten. "Die abscheulichen Taten von Priestern, die wir seit der juristischen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in den vergangenen Jahren kennen, wurden vertuscht, klein geredet oder durch Versetzungen und Lügen verheimlicht", so Overbeck. Dadurch sei vielen Betroffenen großes Unrecht angetan worden. Der Bischof kündigte eine weitere Professionalisierung der Arbeit für die Prävention von sexualisierter Gewalt an. Außerdem müsse auch in der Kommunikation mit Betroffenen, deren Familien und Kirchengemeinden ein transparenter und ehrlicherer Weg gefunden werden. Overbeck betonte, dass die Studie nicht ohne die Bereitschaft von Betroffenen zur Mitwirkung hätte entstehen können. "Mein Dank gilt daher zuallererst den Betroffenen, die sich trotz des Unrechts, das ihnen Kirchenvertreter zugefügt haben, nun bei dessen Aufarbeitung engagieren. So helfen sie uns, zu einem Bistum zu werden, in dem wir Gewalt und Grenzverletzungen bestmöglich verhindern", so Overbeck weiter.

Die sozialwissenschaftliche Studie untersuchte auf der Grundlage von Akten und qualitativen Interviews drei Ebenen des Umgangs mit Missbrauch: Eine institutionelle Ebene, in der Tatverläufe, Täterkarrieren und sechs exemplarische Täterfälle analysiert wurden; eine organisationale Ebene, die insbesondere die Dynamiken in Pfarrgemeinden in den Blick nahm; sowie eine normative und diskursive Ebene, bei der der Umgang mit Sexualität und klerikaler Macht insbesondere mit Blick auf die Priesterausbildung untersucht wurde.

Bisher 2,58 Millionen Leistungen an Betroffene ausgezahlt

Bei der Vorstellung der Studie würdigte der Sprecher des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Johannes Norpoth, die Arbeit des Instituts: "Dem IPP ist es, wie ich finde, hervorragend gelungen, ein sehr komplettes Bild der komplexen Prozesse, Strukturen und Zusammenhänge um Missbrauchstaten – Vertuschung – Täterschutz und Diskreditierung von Betroffenen zu zeichnen." Die Ergebnisse würden alle die Lügen strafen, "die immer noch das Märchen der unsäglichen Einzeltaten erzählen und die systemischen Ursachen negieren wollen". Norpoth betonte, dass immer noch erheblicher Nachholbedarf in der Kirche bestehe. Er forderte ein individuelles Recht auf Aufarbeitung und umfassende Akteneinsicht auch ins bischöfliche Geheimarchiv sowie eine gesetzliche Verpflichtung zur institutionellen Aufarbeitung nach einheitlichen, gesetzlich definierten Standards.

Der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer räumte in seiner ersten Reaktion ein, dass er auch Teil eines katholischen Systems sei, "das unendlich viel Leid verursacht und viele menschliche Lebensgeschichten zerstört hat". Er erkenne immer deutlicher, dass es zu seiner Verantwortung gehöre, dieses System zu überwinden: "Es braucht eine radikale Veränderung. Und diese Veränderung beginnt dort, wo ich, wo wir in dieser katholischen Kirche, in diesem Bistum Essen hinhören und hinsehen, was Betroffene sexualisierter Gewalt zu sagen haben, was viele andere Menschen zu sagen haben, was sie lange Zeit nicht sagen konnten, nicht sagen durften", so Pfeffer. Er räumte Versäumnisse insbesondere beim Fall eines mehrfach verurteilten Missbrauchstäters aus dem Erzbistum Köln ein, der 2019 im Bistum Essen als Ruhestandsgeistlicher eingesetzt wurde. "Dass wir als Verantwortliche im Bischöflichen Generalvikariat das zugelassen haben, war ein schweres Versagen", betonte der Generalvikar.

Insgesamt wurden laut den Zahlen des Bistums 201 Personen beschuldigt, darunter 129 Kleriker und 19 Ordensfrauen. Davon wurden 33 strafrechtlich oder in einem kirchenrechtlichen Verfahren verurteilt, insgesamt gab es 53 Strafanzeigen gegen Beschuldigte. 163 Personen haben Anträge auf eine Anerkennungsleistung für erlittenes Leid gestellt, von denen 141 bereits entschieden sind. Das Bistum hat den Angaben zufolge insgesamt 2,58 Millionen Euro an Leistungen an Betroffene ausgezahlt. (fxn)

Zum Volltext der Studie

Die vollständige Studie ist online verfügbar.

Bitte beachten Sie folgenden Hinweis zu belastenden Inhalten

In der "sozialwissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie zur Aufarbeitung sexualisierte Gewalt im Bistum Essen von 1958 bis heute", geht es um sexuelle Gewalt und sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Bistum Essen. In dieser Studie werden Missbrauchserfahrungen detailliert beschrieben und mit Interviews von Betroffenen, Zeitzeugen und Tätern belegt.