Über ein diplomatisches Ringen

Vor 60 Jahren: Wie ein Großerzbischof aus dem Gulag zum Konzil kam

Veröffentlicht am 16.02.2023 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Vatikanstadt/Lemberg  ‐ Durch päpstliche Vermittlung konnte der ukrainische Großerzbischof Josyf Slipyj 1963 ein sowjetisches Gulag Richtung Rom verlassen. Doch zeigte die vatikanische Diplomatie schon damals gewisse Schwächen gegenüber Moskau.

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Ein schwarz-weiß Foto aus dem Februar 1963: Es zeigt den Konzils-Papst Johannes XXIII. kniend im Gebet. Im Hintergrund sitzt ein weiterer Mann, für Kundige durch Stab und Brustschmuck als hoher Geistlicher einer christlichen Ostkirche zu erkennen. Der bärtige Mann wirkt erschöpft, ausgezehrt. Wenig verwunderlich, hatte er doch gerade erst 18 Jahre sowjetisches Arbeitslager hinter sich gebracht.

Der ukrainische griechisch-katholische Großerzbischof von Lemberg, Josyf Slipyj, gehört zu den prominentesten Opfern von Stalins Vorgehen gegen die Kirche. Schon im April 1945 ließ das sowjetische Regime in der besetzten Ukraine Slipyj und alle anderen Bischöfe der griechisch-katholischen Kirche verhaften. Stalin strebte damit eine Integration der katholischen in die russisch-orthodoxe Kirche an: Wenn überhaupt, dann sollte es doch immerhin nur eine staatstreue Religion für alle Genossen geben.

Für katholische Geistliche in der Ukraine begann eine dunkle Zeit: Wer sich der Zusammenlegung widersetzte, wurde deportiert. Über 2.000 Ordensmänner und -frauen starben nach Schätzungen in den Arbeitslagern. Auch der Großerzbischof verschwand für 18 Jahre in einem Gulag in Sibirien. Drei Mal wurde er ohne ordentliches Verfahren zu Zwangsarbeit verurteilt, zuletzt 1957 für eine Dauer von sieben Jahren.

Die überraschende Freiheit

Doch musste er diese zumindest nicht mehr vollständig ableisten, denn schon 1963 – vor nunmehr 60 Jahren – kam es zu einer unerwarteten Wendung: Der Bischof wurde in Freiheit entlassen. Über Moskau, wo Slipyj insgeheim im Besenschrank einen neuen Bischof weihte, der den Fortbestand der Untergrundkirche sichern sollte, gelangte er am 16. Februar nach Rom, wo er gleich einem Märtyrer empfangen wurde.

Es stand allerdings kein göttliches Wunder hinter dieser Freilassung, sondern vielmehr ein diplomatisches Ringen, zwischen dem Vatikan, Moskau und Washington. Papst Johannes XXIII. sowie der damalige katholische US-Präsident John F. Kennedy konnten die Verhandlungsbereitschaft des sowjetischen Machthabers Nikita Chruschtschow nutzen und für Slipyj die Teilnahme am im Vorjahr eröffneten Zweiten Vatikanischen Konzil erwirken. Kurz vor Abschluss der Synode erhielt der ukrainische Konzilsvater im Februar 1965 von Papst Paul VI. sogar die Kardinalswürde verliehen.

Keine Rückkehr in die Heimat

In den folgenden 20 Jahren sicherte Slipyj aus dem römischen Exil den Fortbestand der ukranisch-katholischen Kirche und sorgte maßgeblich für deren Verankerung im Westen. Er hatte großen Anteil daran, dass die ukrainisch-katholische Kirche die Sowjet-Zeit institutionell überstand und sie sich nach 1990 wieder recht schnell etablieren konnte.

Bild: ©KNA/Fabio Pignata/Romano Siciliani (Archivbild)

Papst Franziskus sorgte seit Beginn des russischen Krieges in der Ukraine schon öfter für Irritationen.

Doch blieb dem Großerzbischof selbst die erhoffte Rückkehr in die Heimat zeit seines Lebens verwehrt. Das führte zu einer zunehmenden Entfremdung mit der römischen Kurie, die sich zwar aktiv für seine Freilassung eingesetzt hatte, eine weitere Eskalation des Konflikts mit Moskau jedoch tunlichst vermeiden wollte. Die Causa ukrainisch-katholische Kirche und insbesondere Slipyjs dauerhafte Anwesenheit in Rom blieben stets ein Bremsklotz für den Ausbau der interreligiösen Beziehungen zwischen römisch-katholischer und russisch-orthodoxer Kirche. Dennoch war man auf beiden Seiten bemüht, die Ökumene weiter voranzutreiben – lange Zeit mit wachsendem Erfolg.

Irritationen durch Franziskus

Wie kompliziert sich dieser Spagat für die vatikanische Diplomatie entwickeln sollte, wurde nun seit dem Februar des vergangenen Jahres bewusst. Schon häufiger sorgte Papst Franziskus seit dem Beginn des russischen Kriegs in der Ukraine für Irritationen, ob nun durch die Vorwürfe der Mitschuld gegen die Nato oder mit der Ankündigung eines Russlandbesuchs.

Aktuell steht Swjatoslaw Schewtschuk der ukrainisch-katholischen Kirche vor; jedoch als Großerzbischof von Kiew, wohin der Sitz sich im Jahr 2005 von Lemberg verlagerte. Trotz des Krieges blieb der Bischof stets vor Ort und spricht weiterhin in wöchentlichen Videobotschaften zu seinen Landsleuten – und der ganzen Welt – über den Krieg und die Rolle der Kirche. Von Papst Franziskus wünscht er sich klare Worte und warnte vor "romantischen Vorstellungen" über Russland. "Wir sehen diese Massengräber. Und der Papst konnte einfach nicht glauben, dass solche vermeintlichen Vorbilder des Humanismus solche Verbrechen begehen können", so Schewtschuk.

Lange schien es so, als scheue sich Franziskus, klare Worte gegen den Aggressor und auch gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Kyrill I. anzuschlagen. Offenbar war der Papst nicht bereit, das gute Verhältnis zum Moskauer Patriarchen – noch bis vor fast genau einem Jahr zeugten regelmäßige Briefe und Treffen eindrucksvoll von ihrer Nähe – dem Disput über den Krieg in der Ukraine opfern zu wollen. Erst mit einiger Verzögerung kamen aus dem Vatikan anklagende Worte gegen Russland. Und eindrucksvoll waren die Bilder des weinenden Kirchenoberhaupts, der für das ukrainische Volk betete. Dieses setzt nun darauf, dass sich eine diplomatische Enttäuschung über den Vatikan, wie sie Slipyj persönlich erleben musste, nicht wiederholt.

Von Johannes Senk (KNA)