Hoffnung auf "neue Phase" gesamtgesellschaftlicher Aufarbeitung

Die Ursachen im Fokus: Mainzer Missbrauchsstudie wird vorgestellt

Veröffentlicht am 03.03.2023 um 00:01 Uhr – Von Norbert Demuth (KNA) – Lesedauer: 

Mainz ‐ An diesem Freitag wird die Missbrauchsstudie für das Bistum Mainz veröffentlicht. Eine "Lehmann-Studie" dürfte die Untersuchung nicht werden, denn ihr Ansatz ist umfassender und ehrgeizig: Sie will an die systemischen Ursachen der Taten heran.

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Nach fast vierjährigen Recherchen wird an diesem Freitag die Studie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Mainz vorgestellt. Rund 1.000 Seiten wird dem Vernehmen nach der Abschlussbericht der Untersuchung umfassen, mit der der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber 2019 vom Bistum beauftragt wurde. Als unabhängiger Ermittler sollte er Missbrauchsfälle seit 1945 aufklären. Weber hat Erfahrung als Sonderermittler: Er zeichnete bereits 2017 für die Aufklärungsstudie über körperliche und sexuelle Gewalt bei den Regensburger Domspatzen verantwortlich.

Die Bistumsleitung betont, dass sie die Ergebnisse der Studie erst am Freitag "zur Kenntnis bekommen" wird. Von einem "mulmigen Gefühl" und großer Anspannung sprach der Mainzer Weihbischof und Generalvikar Udo Markus Bentz am Aschermittwoch in einer Predigt: "In welchen Abgrund werden wir blicken müssen?" Als Weber 2020 einen Zwischenbericht vorstellte, sprach er bereits von einem "Fehlverhalten" früherer Bistumsleitungen. Das betreffe auch die Amtszeiten der bis heute populären Kardinäle Karl Lehmann (1983 bis 2016) und Hermann Volk (1962 bis 1982).

Keine "Lehmann-Studie"

Waren das Fehler oder Vertuschungen? Dazu sagte die heute für die Missbrauchsthematik im Bistum zuständige Bevollmächtigte des Generalvikars, Stephanie Rieth: "Da sind sicher Dinge geregelt, geklärt oder vermeintlich gelöst worden, wie ich sie heute nicht mehr lösen würde. Denn wir lernen erst in der jüngeren Vergangenheit, konsequent die Betroffenenperspektive einzunehmen." Weber hatte in seiner Zwischenbilanz davon gesprochen, dass eine häufige Reaktion auf Missbrauchsfälle "einzig die Versetzung in eine andere Pfarrei gewesen" sei.

Dennoch: Die Untersuchung dürfte keine "Lehmann-Studie" werden. Jedenfalls ist ihr Ansatz umfassender – sie könnte dazu beitragen, dass man versteht, warum es zu so massivem Missbrauch im Raum der Kirche kommen konnte. Der seit 2017 amtierende Mainzer Bischof Peter Kohlgraf betonte, Webers Studie sei "bewusst keine juristische". Das Bistum wolle "die systemischen Fragen verstehen, die in der Kirche dazu beitragen, dass sexuelle Gewalt nicht verhindert oder sogar befördert wird".

Kardinal Karl Lehmann
Bild: ©dpa/Fredrik von Erichsen (Archivbild)

Als Rechtanwalt Weber 2020 einen Zwischenbericht vorstellte, sprach er bereits von einem "Fehlverhalten" früherer Bistumsleitungen. Das betreffe unter anderem auch die Amtszeit von Kardinal Lehmann.

Rieth erläuterte: "Die Erschütterung wird nicht so sehr wie in Köln oder München in der Fülle der aufgeführten Einzelfälle liegen. Vielmehr erhoffe ich mir von der Mainzer Studie, dass wir in puncto gesamtgesellschaftliche Aufarbeitung in eine neue Phase kommen. Wir müssen an systemische Ursachen des Missbrauchs in der katholischen Kirche dran."

Das will offenbar auch Weber. In seiner Presseeinladung schreibt er, die Studie wolle Antworten darauf geben, wie es sein konnte, dass ein Bistum "trotz klarer Indizien für eine Täterschaft Priestern ein unerschütterliches Vertrauen" entgegengebracht habe. Es gehe auch darum, wie es möglich gewesen sei, dass das Umfeld Betroffener Taten von Klerikern mit deren "gutem seelsorgerischen Wirken" aufwiege und relativiere. Die Studie will auf "Dynamiken" im Umfeld von Missbrauch eingehen, etwa in Pfarreien. Sie trägt den Titel "Erfahren. Verstehen. Vorsorgen" (EVV).

Höhere Zahlen als in MHG-Studie

Weber wies 2020 darauf hin, dass sich die Zahl der Fälle im Bistum in seiner Studie von den Ergebnissen der 2018 veröffentlichten MHG-Studie unterscheidet. Diese hatte in den Akten aus der Zeit zwischen 1946 und 2017 für Mainz 53 beschuldigte Geistliche und 169 Betroffene identifiziert. "Nach Kontakten mit 50 Betroffenen und 75 Wissensträgern sowie intensiver Prüfung von Dokumenten und Archivdaten gehen wir Stand heute von 273 Beschuldigten zu Lasten 422 Betroffener aus", so Weber im Zwischenbericht. Allerdings nimmt er nicht nur Kleriker in den Blick, sondern auch andere kirchliche Angestellte – und nicht nur Übergriffe an Kindern und Jugendlichen, sondern auch an erwachsenen Schutzbefohlenen.

Kohlgraf sprach von einem "Schritt der Aufarbeitung massiven Unrechts". Bentz widersprach vorsorglich jenen, die beklagen, dass Kirche öffentlich vor allem mit Missbrauch verbunden werde: "Zu viel Leid ist im Verborgenen geschehen. Zu viel hat man versucht, verborgen zu halten."

Von Norbert Demuth (KNA)