Warum eine Ordensfrau im Gasthaus wohnt
Gleich in der Innenstadt von Recklinghausen, in der Heilig-Geist-Straße, liegt das Gasthaus zum Heiligen Geist. "Kommen Sie herein, die Tür ist offen." Ein Mann mit einem großen Rucksack schiebt sich durch die Tür. Es riecht nach Alkohol. "Gerade läuft der offene Frühstückstisch", erklärt Schwester Judith Kohorst und bittet nach oben. Dort sitzen einige Mitarbeiter des Gasthauses zusammen. Das sind der Sozialarbeiter, die Trauerseelsorgerin, eine Mitarbeiterin der Verwaltung, die Reinigungsfrau und die Köchin. Sie arbeiten im Gasthaus und in der dazugehörenden Gastkirche. Ins Gasthaus kommen nicht nur Menschen in Not, sondern alle, die unsere Angebote wahrnehmen wollen, erklärt die Ordensfrau. In Recklinghausen, einer Stadt im Ruhrgebiet mit 100.000 Einwohnern, ist das Gasthaus eine bekannte Einrichtung. "Auch weil wir am Wochenende geöffnet haben", sagt Schwester Judith, "sogar nachts sind wir erreichbar". Es gibt auch noch fünf Gästezimmer im Haus. "Viele unserer Gäste sind suchtkrank", erklärt Pfarrer Ludger Ernsting, der sich an den Tisch setzt. "Bei uns sind alle willkommen", ergänzt der Leiter der Einrichtung.
Pfarrer Ernsting hat eine kleine Wohnung im dritten Stock. Darunter, im zweiten Stock wohnt Schwester Judith gemeinsam mit anderen Ordensleuten. Sie bewohnen jeweils ein Zimmer. "Wir Ordensleute haben ja ein Leben in Armut und Gemeinschaft versprochen", erklärt Schwester Judith lachend. Sie ist Lüdinghauser Franziskanerin. Zu ihrer "Ordens-WG" gehören auch noch die Missionsschwester Franziska Kaupp und die drei Canisianer-Brüder Ralf Zimmer, Bernhard Sobotha und Reinhard Niemerg. Bruder Reinhard betreut die oft wohnungslosen Tagesgäste im Gasthaus und Bruder Bernhard unterstützt die ehrenamtliche Gruppe, die sich um ehemalige Häftlinge kümmert und Besuche in der JVA Bochum organisiert. Schwester Franziska arbeitet zusätzlich im Eine Welt Laden und Bruder Ralf in der Zentralrendantur der Kirchengemeinde, das ist die Verwaltung der Kirchengemeinde, auf deren Gebiet das Gasthaus liegt. Zum gemeinsamen Gebet und zum Mittagessen treffen alle Ordensleute wieder im Gasthaus zusammen. Sie sind alle, wie der Pfarrer auch, über das Bistum angestellt und bezahlt. Neben den Hauptamtlichen gibt es noch sechs feste Mitarbeiter und rund 250 Ehrenamtliche, die sich in Gasthaus und Gastkirche engagieren. Finanziert wird alles über eine Bürgerstiftung, einem Förderverein.
Schon seit dem Mittelalter gibt es das Gasthaus zum Heiligen Geist in Recklinghausen, sagt Schwester Judith. Und seit 1978 lebten hier Ordensleute und ein Diözesanpriester unter einem Dach, so die 58-Jährige. Sie selbst lernte das Haus im Rahmen ihrer Ausbildung zur Pastoralreferentin kennen. "Ich war sofort begeistert", gibt sie zu, "jetzt lebe ich schon 13 Jahre hier". Seit einem Jahr ist Kohorst auch die Provinzoberin ihrer franziskanischen Gemeinschaft in Lüdinghausen. Daher hat sie die Aufgaben im Gasthaus reduziert. Aber weg von hier will sie nicht mehr. Sie bleibt im Gasthaus wohnen. "Hier fühle ich mich zu Hause", sagt sie.
In der Küche werden Semmelknödel mit Pilzen für den offenen Mittagstisch vorbereitet. Eingeladen zu dem Essensangebot ist jeder, meint der Pfarrer. Es kann schon vorkommen, dass dann die Rentnerin neben dem Studenten und dem Ex-Häftling sitzt. Das sei eine Bereicherung für alle, so Ernsting, der auch bei der Essenausgabe mithilft. Heute hilft Alisina Sharifi in der Küche mit. Der 25-Jährige macht eine Ausbildung zum Koch hier im Gasthaus. Vor zehn Jahren ist er aus Afghanistan nach Deutschland geflüchtet. Im Gasthaus hat er Halt gefunden, wie er erzählt. Seitdem engagiert er sich hier. Vor fünf Jahren ist Alisina getauft worden und Schwester Judith ist seine Taufpatin.
Ein besonderes Bild von Papst Franziskus hängt im Gasthaus
Jetzt geht es in die Gastkirche. Um dorthin zu gelangen, müssen Bewohner und Besucher das Haus nicht verlassen. Eine Tür geht auf, es öffnet sich ein kleiner Durchgang. Das ist die Sakristei. Neben dem Kreuz hängt ein Bild von Papst Franziskus, der einem Mann die Füße küsst. "Der Mann, dem der Papst hier die nackten Füße küsst, ist ein Häftling, erklärt Pfarrer Ernsting. So verstehen wir unseren Dienst hier", sagt er. Bevor er vor 15 Jahren ins Gasthaus in Recklinghausen eingezogen ist, war er 18 Jahre lang Gemeindepfarrer im Ruhrgebiet. Hier hat er gefunden, was er immer gesucht hat. "Wer denkt, dass die Welt egoistisch ist, soll mal einen Tag hier im Gasthaus verbringen. Hier erleben wir soviel Solidarität", sagt er. Einen Kollar-Kragen trägt der 65-Jährige nicht. "Sowas besitze ich nicht", lacht Ernsting. Er war lange im Diözesanrat und Priesterrat des Bistums Münster engagiert. Auch Schwester Judith trägt keinen Habit. "Ich denke, man sieht auch so, wofür wir stehen", sagt sie.
Weil viele suchterkrankte Menschen hier zu Gast seien, ist es notwendig, dass es klare Regeln im Haus gibt, betont der Pfarrer. Dazu gehören vor allem Respekt und Wertschätzung. "Wer nicht gewalttätig wird, darf hierbleiben", sagt Ernsting, "auch wenn er nach Alkohol riecht". Dass es ein eigenes Schutzkonzept im Haus gibt, findet der Seelsorger sehr wichtig.
Wochenends ist Hochbetrieb im Gasthaus. Nur jeweils donnerstags ist Ruhetag. "Zwischendrin ist es gut, dass ich eine Tür vor meinem Zimmer habe, die ich schließen kann", sagt Schwester Judith. Nachmittags werde es im Haus zwar meist ruhiger, aber abends übernimmt dann wieder die Kommunität das Haustelefon für Notfälle die Nacht über. "Einfach mal so alle freinehmen, das geht bei uns hier nicht", erklärt die Ordensfrau, es solle immer jemand erreichbar sein. In der Gastkirche, die auch eine Citykirche ist, gibt es auch ein offenes Gesprächsangebot. Hier sitzen täglich für ein paar Stunden Ehrenamtliche und hören zu."Wir wollen für die Menschen da sein", erklärt Schwester Judith die Idee dahinter.
Unten im Erdgeschoß verteilen sich nun etwa 50 Gäste auf die beiden Essensräume, es sind viele Männer und ein paar Frauen. Ehrenamtliche helfen beim Verteilen der warmen Mahlzeiten. Die Räume sind eng, aber die Stimmung ist fröhlich. Der Sozialarbeiter, Karsten Suchanecki, winkt aus seinem Büro. Er hat gerade noch Berechtigungsscheine für die Recklinghäuser Tafel verteilt und will gleich noch auf die Bank, eine Schuldnerberatung erledigen, erklärt er.
Es ist kurz nach 12 Uhr, Zeit für den Gottesdienst. Die Kirchenglocke ertönt. Pfarrer Ernsting legt seine Stola um. Ein paar Gottesdienstbesucher sind da. Alle singen laut: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind." Weil heute Freitag ist, erinnert der Pfarrer an die, die benachteiligt sind und es schwer in ihrem Leben haben. Kurz vor dem Evangelium läuft Schwester Judith aus der Kirche. Im Gasthaus nebenan hört man zwei Frauen laut schimpfen. Schwester Judith beruhigt die beiden. "Die geraten immer wieder aneinander", erklärt sie später. Zur Kommunion versammelt sich die kleine Gemeinschaft um den Altar. Pfarrer Ernsting taucht die Hostie in den Kelch. Am Ende sagt er "Christus, du bringst uns mehr Leben." "Ja", sagt Schwester Judith, "genau das ist der Grund, warum ich hier im Gasthaus arbeite und lebe".