Das Kreuz mit den evangelischen Kirchenaustrittszahlen
"Schlimmer kommt es immer. Die Mitgliederzahlen der deutschen Protestanten bewegen sich im freien Fall, und ein Ende ist nicht abzusehen", kommentierte unlängst der Bonner "General-Anzeiger". Nach Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ist die Mitgliederzahl von 2021 bis 2022 um 2,9 Prozent auf 19,1 Millionen zurückgegangen. Insgesamt traten demnach 380.000 Menschen aus der Kirche aus. Das waren 33,8 Prozent mehr als im Jahr zuvor.
Berücksichtigt man außerdem die Zahl der Todesfälle (365.000) und Eintritte (170.000), in aller Regel Kindertaufen, steht unter dem Strich ein Minus von rund 575.000 Mitgliedern. Damit ist die evangelische Kirche die drittgrößte Religionsgruppe Deutschlands, wenn man die Konfessionslosen mit 34,9 Millionen (42 Prozent) mit berücksichtigt. Die römisch-katholische Kirche zählt nach den letztverfügbaren Angaben (2021) 21,6 Millionen Mitglieder. Allerdings erwartet auch sie kaum bessere Zahlen, wenn sie wie erwartet Mitte des Jahres ihre Statistik veröffentlicht. Während von Katholiken als Austrittsgründe oft der Missbrauchsskandal, päpstlich-vatikanischer Reformstau oder das Verhalten des Kölner Erzbischofs genannt wird, sind mögliche Gründe für evangelische Kirchenaustritte schwieriger zu benennen.
"So banal es klingt: Die evangelische Kirche ist nicht die katholische Kirche"
Genannt wird einmal der Komplex der Missbrauchsaufarbeitung. Die läuft nach Einschätzung von Beobachtern in der evangelischen Kirche noch immer nicht so gut, wie sie theoretisch laufen könnte. Medial schwimmt sie (nicht nur bei diesem Thema) im Kielwasser der katholischen Kirche. Zu lesen ist auch, viele Menschen träten aus der evangelischen Kirche aus, weil sie sich über die katholische ärgern. Was den Kommentator des evangelischen Magazins "chrismon" zu der Aussage bringt: "So banal es klingt, es muss doch einmal gesagt werden, die evangelische Kirche ist nicht die katholische Kirche." Es sei schlicht falsch, so Konstantin Sacher, wenn in Medien oder Privatgesprächen nur von "der Kirche" in der Krise gesprochen werde. "Sicher läuft vieles in den evangelischen Kirchen schlecht, aber sie sind nicht verantwortlich dafür, was ein Kölner Kardinal tut, und auch nicht für die Ewiggestrigkeit eines Papstes."
Konservative Kommentatoren hingegen verweisen in ihrer Analyse der Kirchenaustritte auf zu liberale, progressive oder "woke" Tendenzen in ihrer Kirche. Seien es restriktive Bestimmungen für Gottesdienste während der Covid-Pandemie, vermeintliche Anbiederungen an die "Letzte Generation" oder zuletzt der Ausschluss des Lebensschützer-Verbands ALfa vom Kirchentag in Nürnberg. Sacher hingegen betont in seinem Kommentar zu den Kirchenaustritten einen für ihn wesentlichen Unterschied zwischen den Kirchen und deren Selbstverständnissen: "Es geht nicht darum, dass es eine gottgegebene Kirche gibt, die den Menschen ihr Heil vermittelt. Gottgegeben, was nichts anderes als unantastbar bedeutet, ist bei uns nur die Würde des Menschen. Die Kirche ist dafür da, die Entfaltung und Bewahrung dieser Würde zu befördern."
Klimakrise, Gaskrise, Migrationskrise, Krise der Bundeswehr und überhaupt der ganzen Welt. "Dieses Krisengerede ist unerträglich", meint er fast trotzig. Natürlich werde die mit den Austritten verbundene schwindende Finanzkraft der Kirche sich in einigen Jahren drastisch auswirken. Dennoch sei das Gerede unerträglich deprimierend, eine "self fulfilling prophecy" - und zudem nur die halbe Wahrheit.
Evangelische wie katholische Vertreter halten den Austrittszahlen mittlerweile die hunderttausende all jener entgegen, die kirchliche Kindergärten besuchen, sich an Beratungsstellen, Sozial- und Pflegeeinrichtungen wenden. Und sie erinnern an jene, die auch nach behördlichem Kirchenaustritt weiter - hin und wieder - Gottesdienste besuchen. Andere verweisen auf die vor einigen Jahren erschienene "Freiburger Studie", die auf eine Stellschraube gegen kirchlichen Mitgliederverlust verweise: Der könne durch Taufen und Wiedereintritte durchaus gebremst werden. So gab es immer wieder einmal Aufrufe zu großen gemeinschaftlichen Tauffeiern, teilweise als ausgefallene Events gestaltet. In diesem Jahr ruft die EKD bundesweit zu einem Tauftag auf: am 24. Juni, dem Fest Johannes' des Täufers.
"Kirche ist für die Menschen und das Menschsein da"
Allen Christen, so kommentierte nicht nur der "General-Anzeiger", täte ein Mentalitätswandel gut: hin zu mehr missionarischem Geist, zu dem auch eine angemessene Form der Mitgliederwerbung gehöre. Die müsse in beiden großen Kirchen zu einer Priorität bei allen Aktivitäten werden. "Kirche ist für die Menschen und das Menschsein da. Und sie ist auch da", schrieb Sacher in "chrismon". Diese Stärke und Bedeutung spiegelten sich nicht in den Zahlen, die alle so gern anstarrten.
Apropos Zahlen: Den nächsten Kirchentag im Juni in Nürnberg planen die Organisatoren mit rund 2.000 Veranstaltungen für 100.000 Menschen. Das ist sind nicht weniger als bei Kirchentagen der vergangenen Jahre.