"Schweigen und Vertuschen – Todsünden der katholischen Kirche" läuft auf Arte

Aufwendig-aufwühlende TV-Doku über Missbrauch durch Geistliche

Veröffentlicht am 11.04.2023 um 00:01 Uhr – Von Gottfried Bohl (KNA) – Lesedauer: 5 MINUTEN

Straßburg ‐ 90 Minuten zum Thema Missbrauch: Das ist nur schwer zu ertragen. Und doch lohnt es dranzubleiben bei der Doku "Schweigen und Vertuschen – Todsünden der katholischen Kirche". Zeigt sie doch Abgründe auf – nicht nur in der Kirche.

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"Missbrauchstäter sind wie Wölfe in der Herde der Kirche – aber es kann nicht sein, dass die Hirten den Wolf decken und die Herde im Stich lassen." So bringt Pierre Vignon das Thema der aufwühlenden Doku auf den Punkt. Der Priester beklagt wütend, er sei in die tiefste französische Provinz verbannt worden, weil er es gewagt habe, Kardinal Philippe Barbarin Vertuschung von Missbrauch vorzuwerfen.

Vignon ist einer von zahlreichen Kronzeugen, die Helmar Büchel für seine Doku "Verschweigen und Vertuschen – Die Todsünden der katholischen Kirche" vor die Kamera geholt hat. Sie läuft an diesem Dienstag um 20.15 Uhr auf Arte. Neben Betroffenen von Missbrauch kommen Historiker, Juristen, Psychologen, Politiker und Kirchenvertreter zu Wort – etwa Münchens Kardinal Reinhard Marx, Essens Bischof Franz-Josef Overbeck und Vatikan-Kinderschutzexperte Hans Zollner.

Beeindruckend und bedrückend

Fachleuten, die sich schon länger mit Missbrauch in der Kirche befassen, dürften viele Fälle bekannt sein. Dennoch ist es so beeindruckend wie bedrückend, 90 Minuten die geballte Ladung auf sich wirken zu lassen.

Besonders aufrüttelnd schildert Wilfried Fesselmann seine Leidensgeschichte. Die hat mit einem der "prominentesten" Fälle in Deutschland zu tun. Prominent, weil hier mehreren Bischöfen und Kardinälen bis hin zum späteren Papst Benedikt XVI. schwere Fehler vorgeworfen werden.

Exemplarisches "Sittengemälde": Der Fall H. im Münchner Gutachten

Ein Priester beging jahrzehntelang Missbrauchstaten und wurde immer wieder versetzt: Seit 2010 macht der Fall H. Schlagzeilen. Das Münchner Missbrauchsgutachten hat sich in einem eigenen Sonderband mit ihm beschäftigt. Mit Hilfe der Ergebnisse lässt sich der Fall rekonstruieren.

Fehler, unter denen Fesselmann und andere Opfer bis heute leiden. Betroffene, denen es vermutlich auch egal ist, ob ihr Fall "prominent" ist oder nicht. Auf das persönliche Leid hat das eher wenig Einfluss.

Fesselmann erzählt etwa, wie er sich nicht mal traute, seiner streng katholischen Mutter zu erzählen, was ihm der im Ort so beliebte Priester antat. Und das Bistum Essen habe den Täter immer nur versetzt, statt die Taten zu verfolgen. So kam der Mann 1980 ins Erzbistum München-Freising, als Joseph Ratzinger Erzbischof war. Und auch dort konnte der Geistliche noch mehr als 20 Jahre sein Unwesen treiben.

Marx: Ein "ungeheuerlicher Fall"

Doch alle Versuche, darauf aufmerksam zu machen, um weitere Taten zu verhindern, seien ins Leere gelaufen, so Fesselmann weiter. Damit nicht genug: Ihm selbst sei "Erpressung der Kirche" vorgeworfen und die Staatsanwaltschaft "auf den Hals gehetzt" worden.

Ein "ungeheuerlicher Fall, bis heute nicht zu verstehen" – räumt Kardinal Marx ein. "Man hätte natürlich anders handeln müssen", betonen andere Verantwortliche. "Wir haben dazugelernt", verspricht Bischof Overbeck.

Bild: ©KNA/Andre Zelck

In der Doku kommt auch der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck zu Wort. "Wir haben dazugelert", verspricht er.

Doch der Film zeigt nicht nur Versäumnisse der Kirche, sondern auch eine schwer zu erklärende Rücksichtnahme durch Politik und Justiz. "Das ist nicht nur ein Kirchenversagen, das ist ein Staatsversagen", sagt Sozialpsychologe Heiner Keupp, Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission des Bundes.

Eine bisher nicht so häufig gehörte Erklärung für diese "Beißhemmung" liefern Opfervertreter Matthias Katsch und Historiker Hans Günter Hockerts: Weil Kirchenvertreter in der Nazi-Zeit verfolgt wurden, sei man noch lange danach übervorsichtig gewesen und habe die Kirche mit Samthandschuhen angefasst.

"Beißhemmung" gegen Kirche?

Hockerts berichtet über eine Agitationskampagne von 1936/37, in der die katholische Kirche als "Sex-Sumpf" dargestellt worden sei – mit pädophilen Priestern als "Musterbeispiel" für die These. Antikirchliche Kundgebungen seien inszeniert worden, um einen Keil zwischen Priester und Gläubige zu treiben und die Glaubwürdigkeit der Kirche zu erschüttern. Nach dem Krieg sei es der Kirche dann gelungen, sich vor allem als Nazi-Opfer zu inszenieren, was zu dieser "Beißhemmung" beigetragen habe.

Eine von vielen interessanten Spuren, denen Büchel in seinen Recherchen nachgeht. Und die die Zuschauer oft ratlos zurücklassen. Zeigen sie doch in geballter Form auf, warum es so schwer ist, bei der Aufarbeitung wirklich voranzukommen. Was aber auch klar wird in den 90 aufwühlenden Minuten: Alle Betroffenen und Experten sind sich einig, dass es nicht um die Aufarbeitung bedauerlicher Einzelfälle gehen kann, sondern um grundlegende Änderungen im System. In einer Kirche, die es so lange nicht geschafft habe, das Leid der Opfer zu verhindern oder auch nur zu sehen.

Von Gottfried Bohl (KNA)