Experte zu Bibelhandschrift: Der "Codex Sassoon" gehört nach Israel
Im Auktionshaus Sotheby's kommt im Mai eine bedeutende mittelalterliche Bibelhandschrift unter den Hammer. Schätzwert: 28 bis 47 Millionen Euro. Der "Codex Sassoon" gehöre zu den vier bedeutendsten Bibelhandschriften überhaupt, erklärt der Kurator vom "Schrein des Buches" am Israel-Museum, Adolfo Roitman. Für den Experten gehört ein solcher Schatz nach Jerusalem.
Frage: Herr Roitman, welche Bedeutung hat der Codex Sassoon?
Roitman: Die hebräische Bibel ist der wichtigste Beitrag des jüdischen Volkes an die Welt. Mit der Übernahme durch das Christentum erhielt sie Universalität. Sie ist die gemeinsame Tradition von Milliarden von Menschen, ohne die Kulturen, Sprachen, Kunst unverständlich bleiben. Sie hat die Welt geformt. Deshalb ist alles, was mit der Bibel zu tun hat, eine wichtige Nachricht für alle.
Frage: Was genau ist ein Codex?
Roitman: Ein Codex ist ein Buch. Die Technik wurde von den Römern entwickelt. Davor gab es Schriftrollen, die aber sehr viel teurer waren. Zudem ist es sehr viel einfacher, durch ein Buch zu blättern, als eine Rolle abzurollen. Trotzdem haben wir Juden rund 800 Jahre gebraucht, um die Technik zu übernehmen. Im Vergleich dazu gab es im Christentum von Anfang an Codices und nur sehr wenige Schriftrollen. Für Juden hat nicht nur die Sprache, sondern auch die Technik der Schriftrollen eine Heiligkeit. Bis heute wird die Thora in Synagogen von Schriftrollen gelesen. Die Technik ist Teil des Gottesdienstes.
Frage: Die berühmtesten Schriftrollen wurden zwischen 1947 und 1956 am Toten Meer gefunden worden. Was macht sie aus?
Roitman: Beduinen und Archäologen haben in Höhlen bei Qumran 25.000 Fragmente gefunden. Nach Rekonstruktionen haben wir 1.000 Manuskripte, von etwa 250 vor der Zeitenwende bis 50 danach. Ein Viertel von ihnen sind die ältesten physischen Nachweise der hebräischen Bibel. Was sie so interessant macht, ist, dass sie verschiedene Versionen des heute gültigen Textes enthalten. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 nach Christus finden wir keine abweichenden Versionen mehr.
Es entstand das rabbinische Judentum, dessen Ziel der Erhalt der Nation und die Stärkung seiner Identität war. Die Bibel sollte zum Grundstein des Volkes werden, nach dem es sein Leben ausrichtet. Überall sollte dieselbe Thora gelesen werden. Als Resultat dieses Prozesses finden wir zum Ende des 1. Jahrtausends erstmals alle Texte in einer Version in einem Buch: dem Aleppo-Codex.
Darin sehen wir ein weiteres Phänomen, die Vokalisierung des Texts durch kleine Zeichen. Die Schriftrollen sind nicht vokalisiert. Die Aussprache basierte auf Tradition und Gedächtnis. Mit der Vokalisierung ist der Codex Aleppo nicht länger abhängig vom Gedächtnis. Seine Vokalisierung und Kommentierung gelten weiterhin als die beste, auch wenn er heute nicht mehr vollständig ist.
Frage: Wo steht bei alledem der Codex Sassoon?
Roitman: Er entstand etwa zur selben Zeit, Ende des 9., Anfang des 10. Jahrhunderts, wie die C14-Datierung ergeben hat – und ist damit älter als der Codex Leningrad aus dem 11. Jahrhundert. Die Handschrift ist bis auf zwölf Blätter vollständig. Die Qualität des Schreibers liegt unter der des Schreibers des Aleppo-Codexes. An den Seiten des Pergaments sind die Notizen teilweise abgeschnitten - wie es überhaupt in etlichen Teilen große Schäden gibt. Trotzdem ist die Handschrift wegen ihrer Vollständigkeit und ihres Alters ein Schatz.
Frage: Sollte eine solche Handschrift nicht der Öffentlichkeit zugänglich sein?
Roitman: Der Codex Sassoon ist in Privatbesitz. Seinem Besitzer steht zu, über sie zu verfügen, einschließlich des Verkaufs. Als Kurator bin ich jedoch der Meinung: Der beste Platz für den Codex ist Israel; und zwar der "Schrein des Buches" im Israel-Museum Jerusalem. Er wurde 1965 mit dem Ziel gegründet, Haus der besten biblischen Handschriften zu werden; und er beherbergt neben dem Aleppo-Codex die Mona Lisa der Handschriften: die Jesaja-Rolle aus Qumran aus der Zeit von 200 vor Christus.
Jerusalem ist die Stadt Gottes für Milliarden Menschen. In der Antike wurde sie als Stadt des Friedens verstanden. Im Schrein des Buches sehen wir, was wir gemeinsam haben. Die Bibel ist eine Metapher der Einheit: Eine gesunde Gesellschaft muss sich respektvoll gegenüber verschiedenen Meinungen zeigen.
In der Bibel gibt es nicht die eine Idee von Gott. Die Weisen haben verschiedene Ideen von Gott in die Bibel aufgenommen, weil Menschen verschieden sind und es verschiedene Perspektiven auch auf Gott gibt. Sie haben diese Unterschiede nicht zum Schweigen, sondern zusammengebracht. Aus dem einen Buch gehen viele verschiedene Identitäten hervor. Ihre Botschaft universalen Friedens ist heute immer noch relevant. Der beste Platz, darüber zu sprechen, ist in Israel, in Jerusalem, im "Schrein des Buches".