Vor 450 Jahren: Der höchste Bau der Welt stürzt ein

Der Turm der Kathedrale von Beauvais stand nur wenige Sommer

Veröffentlicht am 30.04.2023 um 12:15 Uhr – Von Alexander Brüggemann (KNA) – Lesedauer: 5 MINUTEN

Beauvais ‐ Die Zeit der gotischen Kathedralen war vorbei; die von Orleans war im Vorjahr in den Religionskriegen zerstört worden. Doch in Beauvais zwangen sich die Baumeister noch mal zu einer Höchstleistung. Vermessen, wie sich zeigte.

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Kaum war der Burj Khalifa in Dubai mit 830 Metern Höhe als höchstes Gebäude der Welt fertiggestellt, da sind schon die nächsten Rekordjäger auf dem Weg in den Himmel: Der Dubai Creek Tower des spanisch-schweizerischen Architekten Santiago Calatrava mit mindestens 928 Metern Höhe soll 2023/24 fertig werden; der Jeddah Tower mit 1.007 Metern im saudischen Dschidda liegt seit längerem auf Eis. Im Mittelalter lief auch schon dieses Spiel.

Der Unterschied: Damals war Europa noch im Kathedralenfieber. Wer als Bischof etwas auf sich hielt, wollte mit seinem Kirchbau im gefeierten gotischen Stil alle bereits bestehenden ausstechen. Im nordfranzösischen Beauvais hatten sie am Ende das Unmögliche geschafft: Nach Hunderten von Jahren war 1569 die Kathedrale von Beauvais mit 153 Metern Höhe das höchste Gebäude der Welt.

Schon 1284 stürzten Teile des Chorgewölbes ein

Bereits seit 1225 hatte Bischof Milon de Nanteuil den Neubau geplant: als größte Kirche der Welt – größer vor allem als die der Nachbarn Amiens und Rouen. Und von diesem Plan ließen sie in Beauvais nicht mehr ab. Gotisches Bauen wurde mehr und mehr zur Gier nach dem absoluten Maximum; Himmelstreben bis zum Gehtnichtmehr. Doch schon 1284 stürzten Teile des Chorgewölbes ein; die hochfliegenden Pläne schienen erledigt.

Bild: ©SFG/Fotolia.com

Die gotische Architektur – im Bild die Fensterrosette der Kathedrale Saint-Étienne von Metz – zielt auf absolute Transparenz. Von Licht durchflutet soll der Raum sein, den Blick und die Gedanken emporziehen, die Wände geradezu auflösen.

Im 16. Jahrhundert war die Zeit der gotischen Kathedralen eigentlich vorbei – die von Orleans war 1568 in den Religionskriegen von Hugenotten gesprengt worden. Doch fast gleichzeitig rafften sich die Baumeister in Beauvais in der Picardie noch ein letztes Mal zu einer vermessenen Höchstleistung auf. Nachdem sie das Chorgewölbe bis zur unfassbaren Höhe von 48 Metern getrieben und das Querschiff mit seinen Portalen angefügt hatten, setzten sie – als geplante Zwischenstation zum Weiterbau – einen riesigen Vierungsturm auf.

Dass das ohne ein stützendes Langhaus statisch äußerst kühn war, muss den Erbauern klar gewesen sein. Immerhin wählten sie aus einem Entwurf komplett aus Stein und einem mit steinernem Unterbau und Aufbau aus Holz die leichtere Variante aus. 1569 war der Turm fertiggestellt – mit 153 Metern höher als jedes Gebäude sonstwo auf der Welt.

Die gotische Architektur zielt auf absolute Transparenz

Historische Berichte, die Olavskirche in der baltischen Hansestadt Reval (heute: Olaikirche in Tallinn) sei damals 159 Meter hoch gewesen, beruhen wohl auf einem Rechenfehler mit einem nicht gängigen Längenmaß; sie wird nicht viel mehr als 120 Meter erreicht haben. Und in London war 1561 der 149 Meter hohe Turm der St. Paul's Cathedral nach einem Blitzschlag eingestürzt. Hatten sich die Meister von Beauvais tatsächlich über die Gesetze der Statik hinwegsetzen können? Hatten sie es tatsächlich der ganzen Welt gezeigt? Schon einmal war es ja schiefgegangen.

Die gotische Architektur zielt auf absolute Transparenz. Von Licht durchflutet soll der Raum sein, den Blick und die Gedanken emporziehen, die Wände geradezu auflösen. Für die komplizierte Statik müssen Außenstreben sorgen, um die enormen Auflasten des Gewölbes seitlich abzuleiten. In jener verhängnisvollen Nacht des 29. November 1284 jedoch riss ein furchtbarer Knall die Bürger aus dem Schlaf. Die Stabilität hatte nicht gereicht, die Baumeister ihren Genius überschätzt.

Bild: ©picture alliance / dpa

Der heutige Torso der Kathedrale von Beauvais wirkt wie ein mittelalterlicher Turmbau zu Babel.

Das sollte diesmal nicht passieren. Doch die Winde, die vom Meer über die Ebene rollten, zerrten an der gewagten Konstruktion. Und obwohl noch wenige Wochen zuvor eine zusätzliche Stützkonstruktion für den Vierungsturm fertiggestellt worden war, geschah, was geschehen musste: Das Wunder von Beauvais währte nur wenige Sommer. Vor 450 Jahren, zu Christi Himmelfahrt 1573, dem 30. April – die Gemeinde hatte die Kirche soeben in Prozession verlassen – gaben zwei der Stützpfeiler nach. Der Holzturm bretterte buchstäblich auf das Chorgewölbe und Querhaus hinunter. Die einstürzenden Gewölbe und die Glocken zermalmten den gerade vollendeten Lettner.

Ein mittelalterlicher Turmbau zu Babel

Die Überlieferung berichtet, dass ein zum Tod am Galgen Verurteilter die wackeligen Trümmerreste vom Dach hinunterstoßen musste – und sich damit Leben und Freiheit verdiente. Die Beseitigung der Schäden fraß bis 1578 sämtliche Mittel auf, die eigentlich zum Weiterbau am Langhaus gedacht waren. So wirkt der heutige Torso wie ein mittelalterlicher Turmbau zu Babel: Chor und Querhaus, multipel verankert und gesichert gegen eine dritte Katastrophe, stehen für das Maximum, das die gotische Kathedrale rein statisch erreichen konnte.

Und statt eines stolzen Langhauses und der Westtürme – Gott weiß, wie hoch sie wohl hätten werden sollen – hockt demütig und scheinbar winzig bis heute der karolingische Vorgängerbau aus dem 10. Jahrhundert, in dem noch Steine aus der Römerzeit verbaut sind. Aber: Auch dieses vermeintlich hutzelige Häuschen ist ein Gotteshaus. Auch hier wurde über Jahrhunderte die Messe gefeiert, während nebenan das damals größte Gebäude der Welt entstand.

Von Alexander Brüggemann (KNA)