Ukrainerin: "Endlich kann ich Messdienerin sein"
Polina Yukhymovych sitzt auf einer Parkbank vor der neuromanischen Backsteinkirche St. Anna. Ihre Kleidung ist bunt, farbenfroh. Die 20-jährige junge Frau kommt aus der Ukraine und lebt seit einem Jahr in Ratingen, in der Nähe von Düsseldorf. Seit ein paar Monaten ist Polina auch Messdienerin in der katholischen Kirchengemeinde Lintorf St. Anna. Als sie einmal vor einem Gottesdienst von jemanden aus der Gemeinde gefragt wird, ob sie spontan ministrieren möchte, sagt sie zu. Seitdem dient sie am Altar. Auch heute Abend will sie in den Gottesdienst.
In Polinas Heimatgemeinde in Worsel, das ist eine Siedlung bei Irpin nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, war das Ministrieren für Mädchen nicht erlaubt. "Bei uns in der Kirche machen das nur Jungs", erzählt sie. Ihr Heimatpfarrer hat einmal gesagt, für Mädchen sei das nichts. Erst kürzlich hat sie ihm erzählt, dass sie jetzt in Deutschland Messdienerin ist. "Mach nur", hat er ihr gesagt. Er findet es gut, sagt Polina und lacht.
Letztes Jahr im April ist sie gemeinsam mit ihrer Mutter vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. Zuerst sind sie einige Tage in Polen bei einer älteren Frau untergekommen, blickt die 20-Jährige zurück. Dann hat sich eine Freundin bei ihrer Mutter gemeldet. "Sie lebt schon länger in Deutschland und hat uns zu sich eingeladen", erinnert sich Polina. Seitdem sind Mutter und Tochter hier in Ratingen. "Wir haben Glück", meint sie. Ihr Vater und ihr älterer Bruder sind noch in der Ukraine. Sie dürfen nicht ausreisen. Eine Ausreise sei nur Männern erlaubt, die über 65 Jahre alt sind, mehr als drei Kinder haben oder jemanden betreuen müssen, weiß Polina. Die junge Frau telefoniert täglich mit ihrer Familie in der Ukraine. Heute hat sie auch schon mit ihrem Papa gesprochen: "Es geht ihm gut." Die Kirchenglocken läuten. Die junge Ukrainerin schaut auf ihr Handy, das sie mit einem orangefarbenen Band um den Hals trägt. "Wir haben noch Zeit", sagt sie.
Dass ihre Familie römisch-katholisch ist, erzählt sie jetzt. In Kiew gibt es sogar drei katholische Kirchengemeinden. Daneben gibt es dort griechisch-katholische Kirchengemeinden. Die griechisch-katholische Kirche feiere den Gottesdienst nach byzantinischem Ritus. Aber beide katholischen Kirchen in der Ukraine hören dem Papst zu, "Papa Francesco", wie sie es erklärt. Persönlich getroffen hat sie Papst Franziskus noch nie. Sie blickt auf die Kirche vor sich.
Seitdem sie mit ihrer Mutter aus der Ukraine hergekommen ist, bedeutet diese Kirche Heimat für Polina. Sie engagiert sich in der Jugendarbeit, hilft bei Gemeindefesten und unterstützt ukrainische Kinder im Schulunterricht. Alles ehrenamtlich. Eines Tages möchte sie aber ihr eigenes Geld verdienen. "Das geht erst, wenn ich den Sprachkurs fertig habe", betont Polina. "Ich will die deutsche Sprache gut sprechen können." Ihre Muttersprachen sind ukrainisch und russisch, erklärt sie dann. Seit zwei Jahren studiert Polina Gastronomie in der Ukraine. Das geht, sagt sie, online. Jeden Tag setzt sie sich stundenlang vor den Computer, nimmt an verschiedenen Kursen teil und lernt für Prüfungen. Sie träumt davon, eines Tages ein eigenes Restaurant zu leiten oder Konditorin zu sein. Früher in Worsel hat sie oft Kuchen gebacken und Freundinnen zu sich nach Hause eingeladen. Dieses zu Hause von früher gibt es nicht mehr: "Der Krieg ist schrecklich", sagt Polina.
"Es ist vieles kaputt zu Hause"
Heute kann sie besser damit umgehen, wenn ihr Freundinnen und Verwandte Bilder aus dem Krieg schicken. Ihre Heimatstadt liegt ganz in der Nähe von Butscha. Dieser Ort wurde zu Beginn des Krieges in der Ukraine durch die Grausamkeiten der russischen Soldaten an die Menschen dort bekannt. "Es ist vieles kaputt zu Hause", sagt sie. Nur noch wenige Einwohner leben heute in Worsel. Polina hofft jeden Tag, dass der Krieg aufhört. Bis dahin will sie hier in Ratingen bleiben und lernen.
Sie schaut auf das Handy, steht auf und öffnet eine kleine Holztür am Seiteneingang der Kirche, die direkt in die Sakristei für die Messdiener führt. Dort nimmt die 20-Jährige einen roten Talar aus einem Schrank, zieht ihn an und streift ein weißes Chorhemd darüber. Sie stellt sich vor einem Spiegel und sagt: "Fertig". Der Küster, Josef Bützer, klopft an die Tür und fragt: "Alles okay?" Polina folgt ihm in den Altarraum, verneigt sich vor dem Tabernakel und geht in die gegenüberliegende Sakristei. Dort warten schon der Pfarrer und der Lektor auf die beiden. Der Gottesdienst beginnt.
Polina stellt sich im Altarraum neben den Küster, der auch ein Chorgewand trägt. Gemeinsam führen sie die Dienste am Altar aus. Sie tragen die Leuchter zum Ambo, holen die Kännchen mit Wasser und Wein und knien vor dem Altar. Zur Wandlung läuten beide die Altarschellen. Die Glocke von Polina klingt hell, zart. Das Klingeln der Altarschellen während des Hochgebets mag sie besonders gerne, erklärt Polina später. Hier in der Kirche fühle sie sich wohl. "Meiner Mama und mir gibt das viel Kraft". Und sie ergänzt: "Gott ist unser Vater, von ihm bekommen wir die Kraft, weiterzumachen". Das Vaterunser betet sie im Gottesdienst immer auf Ukrainisch, verrät sie. Das sei für sie in ihrer Muttersprache einfacher. Sie betet es nach dem Gottesdienst einmal laut vor und faltet dabei die Hände.
Danach hilft sie dem Küster beim Aufräumen. Sie sammelt die Liederbücher ein, holt die beiden leeren Kännchen und stellt den Kelch in die Sakristei. Der Küster lobt sie. Sie habe sehr schnell alle Dienste gelernt. Sonntags kämen noch mehr Ministranten, Samstagabend sei sie meistens allein, erklärt sie später. Der Küster zeigt noch den Tresor, in dem die vergoldeten Messkelche aufbewahrt werden. Polina schaut sich alles an. Auch das große Altarbild über dem Tisch in der Sakristei. Es zeigt die heilige Anna, die Großmutter Jesu, Maria und das Jesuskind. "Leider habe ich keine Großmutter mehr", sagt sie und geht wieder in die Messdienersakristei. Sie zieht Talar und Chorhemd aus. Vor der Kirche steigt Polina auf ihr Fahrrad. Von Deutschland hat sie bislang noch nicht viel gesehen. Vielleicht könnte sie zum Weltjugendtag nach Lissabon nächstes Jahr fahren, überlegt sie laut. Dann könnte sie dort auch endlich einmal den Papst treffen. Sie radelt davon. Ihr Handyband flattert im Wind.