Zollner: Auf anderen Kontinenten bisher kaum Missbrauchsaufarbeitung
Der Kinderschutzexperte Hans Zollner sieht die Kirche bei der Prävention von Missbrauch deutlich weiter als bei der Aufarbeitung. Es gebe weltweit keine andere Organisation, die flächendeckend Leitlinien einfordert, Schutzkonzepte erstellt und Präventionsschulungen durchführt, sagte der Jesuitenpater im Interview mit dem Magazin "Cicero" (Mittwoch). Die Aufarbeitung im umfassenden Sinne stehe aber auch dort am Anfang, wo sie schon begonnen hat, also etwa in Deutschland, den USA und Frankreich.
"In vielen anderen Ländern dieser Welt ist Missbrauchsaufarbeitung deswegen nicht gescheitert, weil man etwa in Teilen Lateinamerikas, in Afrika und Asien mit dem Thema noch gar nicht angefangen hat", so Zollner. Vorreiterin sei die Kirche dadurch, dass sie genötigt wurde, wissenschaftlich ertragreiche Gutachten in Auftrag zu geben. "Die Kirche ist aber sicher nicht Vorreiterin in der medialen Darstellung und leider auch nicht, was die Diskussion über die Resultate angeht. Sie ist nicht Vorreiterin bei den Konsequenzen, die in grundsätzlicher systemischer Hinsicht gezogen werden müssten", schränkte Zollner ein.
Aufarbeitung sei umfassender zu verstehen als lediglich Aufklärung im juristischen Sinn. "Viele kirchliche Verantwortungsträger und auch viele andere in der Kirche meinen, es sei schon so wahnsinnig viel geschehen, wenn man ein Gutachten in Auftrag gibt, Zahlen und Fälle auflistet, wenn man eine Predigt dazu hört oder einen Versöhnungsbrief schreibt. Das ist aber oft nicht das, was Betroffene unter Aufarbeitung verstehen", so Zollner. Ihnen gehe es darüber hinaus vor allem um "das Wahrgenommenwerden, das existenziell Angehört- und Angenommenwerden". Der Blick auf die institutionellen, administrativen und organisatorischen und damit systemischen Zusammenhänge finde nur sehr rudimentär statt. "Sie gilt es zu verändern", betont Zollner.
Kirche als Stimme der Mitte fehlt in der Gender-Debatte
Bei der Bearbeitung systemischer Ursachen dürfe man aber nicht glauben, dass es "Automatismen im Sinn von magischen Lösungen" gebe, mit denen alles gut werde, etwa die Abschaffung des verpflichtenden Priesterzölibats. Die Münsteraner Studie habe deutlich gezeigt, dass es nicht nur um die klerikale Führungsschicht gehe, sondern auch um die Menschen in den Pfarreien: "Viele wussten was, haben weggeschaut und selbst Missbrauchsfälle verharmlost. Die ganze Kirche muss umdenken und lernen, nicht nur ein paar Bischöfe. Oft gibt es auch schon die entsprechenden Gesetze, sie müssten nur angewandt werden."
Insgesamt sieht Zollner in der Kirche wie in der Gesellschaft eine sehr gemischte Realität: "Es gibt in der Kirche nach wie vor Vertuscher und solche, die die Dinge aufdecken wollen. Es gibt diejenigen, die für die Prävention einstehen, und diejenigen, die sagen: Jetzt lasst es mal gut sein. Es gibt diejenigen, die den Opfern zuhören, und es gibt diejenigen, die sich nicht wirklich die Zeit nehmen und die Energie investieren." Im Vatikan hätte aber eine große Zahl an Menschen grundsätzlich verstanden, wie drängend das Thema Missbrauch in der Kirche ist. "Aber es gibt auch diesen italienischen Kontext: Man sitzt hier Probleme gerne aus. Man möchte sich nicht mit unangenehmen Dingen befassen", schränkt Zollner ein.
Zollner bedauerte, dass die Kirche durch ihre Krisen auf dem Gebiet der Sexualmoral ein Sprach- und Verständnisproblem habe. So könne sie nicht vermitteln, was sie unter einer gesunden und integrierten Sexualität verstehe. "Eigentlich aber wäre es gut, wenn beim Thema Gender die Stimmen der Kirche und des Papstes mehr gehört würden", ist der Jesuit überzeugt. Es brauche eine abgewogene Betrachtungsweise gegen die "extrem ideologisch aufgeladenen populistischen Vorstellungen von links oder rechts". Wohl 99,5 Prozent der Menschen sei biologisch entweder Mann oder Frau: "Die extreme Gender-Position, dass Sexualität ausschließlich ein soziales Konstrukt sei, meine ich, widerspricht tatsächlich dem christlichen Menschenbild. Der wichtigste Grund dafür ist, dass so eine Gender-Vorstellung die Körperlichkeit des Menschen völlig unterbewertet. Es ist eben nicht alles offen und frei wählbar." Wenn Sexualität und Geschlecht allein zu einem Spielball des freien Willens würden, werde es schwierig, Grenzen zu ziehen und zu erklären, warum bestimmte Positionen nicht tragbar seien. Das betreffe etwa Pädophilie, wo die Gefahr bestehe, solche Vorlieben als mögliche, akzeptable sexuelle Orientierungen durch die Hintertür wieder in die Debatte einzubringen. Die katholische Kirche müsse sich dafür einsetzen, dass es in gesellschaftlichen und politischen Debatten über Geschlecht wieder eine Position der Mitte gebe. (fxn)