Theologieprofessor Nicklas über Entstehung der Bibel und apokryphe Schriften

Neutestamentler: Apokryphen helfen, Bibel mit anderen Augen zu sehen

Veröffentlicht am 25.06.2023 um 12:00 Uhr – Von Christoph Brüwer – Lesedauer: 

Regensburg ‐ Die Bibel enthält vier Evangelien – doch außerhalb der Bibel gibt es weit mehr. Sie gehören zu den sogenannten Apokryphen. Im katholisch.de-Interview spricht Tobias Nicklas über Kirchenpolitik bei der Erstellung des Bibelkanons und darüber, warum sich die Theologie mit diesen Texten befassen sollte.

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Während die biblischen Texte den meisten Christinnen und Christen bekannt sein dürften, kennen nur wenige die außerbiblischen Apokryphen. Tobias Nicklas, Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg, erforscht diese Schriften seit Jahren. Er leitet die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Gruppe "Jenseits des Kanons". Im katholisch.de-Interview erklärt er unter anderem, wie man sich den Textbestand der apokryphen Schriften vorstellen kann.

Frage: Herr Nicklas, wie ist – kurz zusammengefasst – die Bibel entstanden, die wir heute kennen? Wer hat da festgelegt, welche Texte aufgenommen wurden und welche nicht?

Nicklas: Die Frage klingt ganz einfach, gehört aber zu den schwierigsten, die wir in der Kirchengeschichte zu beantworten haben. Wir können in etwa rekonstruieren, dass bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts alle Schriften, die heute Teil des Neuen Testaments sind, schon entstanden waren. Damit besteht aber noch keinesfalls so etwas wie die christliche Bibel, die wir kennen. Zur Entstehung des Neuen Testaments gibt es unterschiedliche Ideen: etwa, dass es eine Bewegung von unten war – dass sich also die Texte durchgesetzt haben, die den frühen Gemeinden am relevantesten erschienen. Es gab aber auch eine ganze Reihe von Impulsen von außen, die dazu geführt haben, dass eine eigene, gemeinsame und verbindliche Schriftensammlung entstanden ist, etwa um sich von häretischen Gruppen abzugrenzen, die neue Evangelien geschrieben oder eine andere Theologie verfolgt haben. Das Ganze war aber auch eine große technische Herausforderung, eine neue Art von Büchern zu publizieren. Denn bis zur Entstehung des Christentums ist ein großer Teil der Bücher der Antike in Rollenform gewesen. Durch die Entwicklung des Kodex gab es nun die Möglichkeit, eine nahezu beliebige Zahl von Büchern aneinanderzubinden.

So kommen unterschiedliche Prozesse zusammen, sodass es fast unmöglich ist zu sagen, wann genau der Kanon des Neuen Testaments abgeschlossen gewesen ist. Wir können davon ausgehen, dass ab dem dritten Jahrhundert vielerorts eine Idee von diesem Kanon herrschte und dass dieser ab dem vierten Jahrhundert weitgehend verbreitet war. Das war aber nicht für jede Gemeinde gleich, da es schwierig war, diese technisch aufwendigen und teuren Vollbibeln zu bekommen, sodass die meisten Bibliotheken etwas konfuser ausgesehen haben dürften.

Frage: Was war der Grund dafür, dass man sich für bestimmte Texte entschieden hat und andere dagegen ausgelassen wurden? Gab es dabei auch kirchenpolitische Hintergedanken?

Nicklas: Auch das ist eine unglaublich schwierige Frage, die man eigentlich für jeden Text auf unterschiedliche Weise beantworten müsste. Es gibt beispielsweise einige Texte, die gar nicht den Anspruch hatten, in einen Kanon aufgenommen zu werden, sondern sich selbst geradezu als apokryph bezeichnen – etwa das Judas- oder das Thomasevangelium. Dann gibt es Texte, die nie auf die gleiche Ebene kommen wollten, wie das, was wir heute als kanonisch verstehen, etwa das Protevangelium des Jakobus – eine Kindheitsgeschichte, die noch bis zur Geburtsgeschichte Mariens zurückgeht –, das trotzdem breit rezipiert wurde und wird. Und dann gibt es Texte, die tatsächlich aus theologischen Gründen ausgeschlossen wurden, weil sie eine Grenze überschritten haben, von der man ausgegangen ist, dass man das nicht mehr als rechtgläubige Theologie verstehen kann.

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Frage: Bei den Texten, die nicht in die Bibel aufgenommen wurden, spricht man von den Apokryphen. Wie muss man sich diesen Textbestand vorstellen? Wie viele Schriften gibt es in etwa?

Nicklas: Im Grunde haben wir es mit einer unabgeschlossenen Gruppe an Texten zu tun, sodass wir mit Zahlen nicht sehr weit kommen. Ich möchte trotzdem ein paar Beispiele geben: Bis zum fünften Jahrhundert sprechen wir von 35 Evangelien oder evangelienähnlichen Texten. Im Neuen Testament gibt es eine Apostelgeschichte. Bis zum vierten Jahrhundert gibt es fünf bekannte, umfangreiche Apostelerzählungen, ab dem vierten Jahrhundert noch einmal um die 50, die mir bekannt sind, zudem dutzende Apokalypsen. Zusätzlich gibt es eine ganze Reihe von Texten, die sich nicht in diese Formen einsortieren lassen, beispielsweise den ersten großen christlichen Roman, die sogenannten Pseudo-Klementinen, oder Jenseitsreisen, die auch apokalyptisch sind. Es ist also ein Ozean, in dem man ertrinken kann, in dem man aber auch immer wieder Neues entdecken kann.

Frage: Im Neuen Testament gibt es vier Evangelien. Hätte man nicht einfach sagen können: Wir nehmen drei mehr und die Bibel wäre einfach ein bisschen länger geworden?

Nicklas: Zunächst einmal ist es sehr spannend, dass wir vier haben und nicht nur ein einziges. Ich finde das wunderbar, weil wir dadurch erkennen können, dass bereits im Neuen Testament eine Basis für eine Vielfalt dessen gelegt wird, wie wir Jesus verstehen wollen. Es hat tatsächlich im Laufe der Zeit immer wieder Überlegungen gegeben, ob nicht der eine oder andere Text noch hinzugenommen wird. Eine richtige Chance, als fünftes Evangelium dazuzukommen, können wir aber eigentlich bei keiner dieser Schriften erkennen, weil sie zum Teil das gleiche berichten, was wir aus anderen Schriften des Neuen Testaments schon kennen, oder weil sie von der werdenden Großkirche theologisch als problematisch angesehen wurden. So wurden die Grenzen aus pragmatischen Gründen gezogen und man hat die Zahl vier dann später theologisch aufgeladen.

Frage: Welche problematischen Texte waren das beispielsweise?

Nicklas: Besonders problematisch sind Schriften, die einen Bruch zwischen dem Gott Jesu und dem Gott Israels sehen, die also von verschiedenen Gottheiten sprechen und dabei den Gott Israels nur als einen Demiurgen, also eine Art "Handwerker-Gott" sehen, der die Welt verpfuscht hat. Hier könnte man an das – heute weitgehend verlorene – Evangelium des Markion denken oder auch an die esoterischen Schriften der so genannten "Gnostiker", zu denen zum Beispiel das schon erwähnte Judasevangelium gehört. So genannte "Doketen" wiederum vertraten die Ansicht, dass Jesus nur zum Schein Mensch geworden sei und dabei einen Leib angenommen habe. Die koptische (das heißt spätantik-ägyptische) Apokalypse des Petrus, die in der Bibliothek von Nag Hammadi gefunden wurde, geht beispielsweise davon aus, dass der wirkliche Erlöser gar nicht wirklich gekreuzigt wurde, sondern nur sein fleischlicher Leib. In dieser Weise könnte man noch lange fortfahren – aber keineswegs alle apokryphen Schriften sind theologisch problematisch.

Frage: Zusammengefasst kann man in den Apokryphen also keine Art geheime Gegenbibel sehen?

Nicklas: Wenn Sie mit einem Buch über Apokryphen Geld machen wollen, schreiben Sie "Gegenbibel" darauf (lacht). Das gilt aber nur für ganz wenige Texte, die sich bewusst gegen großkirchliche Strömungen richten, oder sich selbst als Elite betrachten. Und eine feste Sammlung von Apokryphen gibt es nicht. Viele Texte wollen die biblische Denk- und Erzählwelt weiterführen und sie in andere Sphären bringen. So hat Irland etwa eine eigene Tradition der apokryphen Schriften entwickelt, damit die irische Kirche teilhaben kann an der biblischen Welt.

Theologieprofessor Tobias Nicklas
Bild: ©Privat

"Die Schriften des Neuen Testaments haben sich bewährt – auch wenn es natürlich hochproblematische Stellen auch im Neuen Testament gibt", sagt Theologieprofessor Tobias Nicklas.

Frage: Die Bibel hat eine ungemeine Wirkungsgeschichte – nicht nur im Christentum selbst, sondern auch in Kunst und Kultur. Wie ist das bei den apokryphen Texten?

Nicklas: Das liegt vor allem daran, auf welche Region man schaut. Wenn Sie in eine orthodoxe Kirche gehen, wird Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit Bildmaterial begegnen, das Biblisches und Außerbiblisches miteinander verbindet. Viele Bilder von Jenseits und Hölle, die heute Gott sei Dank in Teilen überkommen sind, stammen ebenfalls nicht aus der Bibel, die keine detaillierten Höllenbeschreibungen kennt, sondern lassen sich beispielsweise auf die sogenannte Visio Pauli zurückführen, in der Paulus durch Himmel und Hölle geht. Diese Vorstellungen haben indirekt sicherlich selbst Texte wie "Die göttliche Komödie" von Dante beeinflusst.

Frage: Die apokryphen Schriften spielen grundsätzlich eine entscheidende Rolle in der Volksfrömmigkeit. Wie ist das in der Wissenschaft?

Nicklas: Das hat sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verändert: Wenn man sich alte Einführungen in die apokryphen Schriften anschaut, gibt es darin mitunter sogar die Interpretation, die apokryphen Schriften seien so schlecht, dass man den Heiligen Geist darin erkennen könne, dass nur die guten und theologisch wertvollen Schriften in den Kanon aufgenommen wurden. Oder es wird das Bild von einem Baum bemüht, dessen Wucherungen man abschneiden muss. In den vergangenen Jahrzehnten hat es einen Paradigmenwechsel gegeben und man hat erkannt, dass wir in den apokryphen Texten viel über die Vielfalt des antiken Christentums erfahren können. So kann man aus den außerbiblischen evangelienähnlichen Texten nur wenig über den historischen Jesus in Erfahrung bringen, aber viel davon erfahren, wie man Jesus verstanden hat.

Frage: Könnte es denn theoretisch sein, dass sich durch neue Forschungsergebnisse manche apokryphen Texte doch als authentischer entlarven, als manche Bibelbücher – und man überlegen muss, ob der Kanon so noch passt?

Nicklas: Ich kann mir nicht vorstellen, dass so etwas passiert. Dazu ist auch die Tradition zu stark und deutlich. Die Schriften des Neuen Testaments haben sich bewährt – auch wenn es natürlich hochproblematische Stellen auch im Neuen Testament gibt. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass apokryphe Texte jetzt plötzlich Teil unseres Kanons werden. Ich kann mir aber sehr wohl vorstellen, dass diese Schriften uns helfen können, theologische Fragen anders oder neu zu stellen oder wiederaufzugreifen. So können wir die Selbstverständlichkeit des Neuen Testaments plötzlich mit anderen Augen betrachten.

Frage: Was würden Sie abschließend sagen: Warum ist es für Theologie und Gläubige heute sinnvoll und wichtig, sich mit apokryphen Texten zu beschäftigen?

Nicklas: Aus meiner Sicht von Theologie kann uns Vielfalt helfen, die Stimme Gottes zu erkennen. In den Texten begegnen uns die ganz konkreten Fragen von Menschen, die nicht unbedingt Theologinnen oder Theologen sind, und der Versuch, darauf mithilfe von biblischen, christlichen oder kirchlichen Traditionen kreativ zu antworten. So können wir uns diesen Schriften nähern, ohne dass wir jetzt gleich ganz apokryph werden. Natürlich dürfen wir mit dem, was uns da begegnet, nicht einfach unkritisch umgehen. Kritische historische Zugänge, die wir uns seit der Aufklärung erarbeitet haben, dürfen auch dort nicht halt machen.

Von Christoph Brüwer