Vom Frauenhaus ins eigene Leben: Miras Weg der Hoffnung
Ohne, dass man es so richtig gemerkt hat, hat Mira einen Teller mit Kuchen auf den Tisch gestellt – selbstgemacht. Darauf angesprochen, wie lecker er ist, lächelt sie geschmeichelt. Zufrieden guckt sie beim Essen zu. "Ich esse aber nur die Hälfte, ich hatte letztes Mal schon ein Stück", sagt Katja Maur. Dann entsteht eine kurze Pause, während der Miras zwei Gäste essen und die 30-Jährige sich unbeschwert ihrem Handy hingibt, auf Sozialen Netzwerken surft und dabei unbewusst ihr halblanges rotbraunes Haar zurückwirft. Wer diese lebensfrohe Frau trifft, mag kaum glauben, dass ihr Leben noch vor wenigen Monaten die Hölle war.
So zwanglos Mira und Katja Maur zusammensitzen, so ernst ist der Grund ihres Treffens: Miras Zukunft. Katja Maur leitet das Projekt "Second Stage" des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) in Koblenz, dass Frauen helfen soll, nach dem Frauenhaus zurück ins alltägliche Leben zu finden. Teil des Projekts ist eine Wohnung, in der zwei Frauen als erste Station wieder allein leben und regelmäßigen Besuch von Maur bekommen. Mira, die anders heißt und auch ihr Gesicht nicht auf Fotos sehen will, ist die erste Bewohnerin.
Seit zwei Monaten lebt sie hier, vorher war sie drei Monate im Frauenhaus – eine sehr kurze Zeit. Aber sie hat gewissermaßen Übung: Vor fünf Jahren floh sie schon einmal vor ihrem Mann, der sie schlug. Doch sie kehrte anschließen zu ihm zurück. Damit ist sie kein Einzelfall: Dass Frauen aus dem Frauenhaus in ihre gewalttätige Beziehung zurückkehren oder in eine neue geraten, kommt immer wieder vor. Mira erklärt auch, warum: "Damals hatte ich im Frauenhaus keine Perspektive, ich wusste nicht, wie ich mir ein neues Leben aufbauen sollte." Gerade dabei soll das SkF-Projekt helfen.
Wohnung ist frisch eingerichtet
In Rheinland-Pfalz gibt es seit vergangenem Jahr bereits zwei Modellprojekte, um Frauen aus dem Frauenhaus an das Leben in einer eigenen Wohnung zu gewöhnen. Dieses Jahr kommen zwei weitere dazu. Die Wohnung ist frisch eingerichtet, in manchen Zimmern liegen noch verpackte Handtücher, Tassen und Bettwäsche. Für die Frauen hier ist alles fertig, sie müssen nur noch einziehen. Dann leben sie ein halbes Jahr hier. Zeit, um das neue Leben zu organisieren.
Die ist auch nötig, denn die Frauen haben viel zu tun: Ummelden, das Jobcenter aktivieren, Kindergeld beantragen, die Scheidung einleiten, das Sorgerecht regeln, die Kinder in einen neuen Kindergarten oder eine neue Schule bringen, eine Wohnung finden, diese Wohnung einrichten, einen Therapieplatz bekommen – um nur die wichtigsten Baustellen zu nennen. Eine Unmenge an Aufgaben mit viel Bürokratie, schon unter normalen Umständen.
Für eine alleinerziehende traumatisierte Frau eine ungleich größere Herausforderung. "Ich hatte so viele Gedanken im Kopf, ich konnte mich auf nichts konzentrieren", beschreibt Mira ihren Zustand, nachdem sie vor einem knappen halben Jahr ihren Mann verließ. Ihre Lösung: "Ich habe geschrieben, die ganze Zeit geschrieben, alle Gedanken aus meinem Kopf auf Papier gebracht."
Traumatische Erfahrungen auf der Flucht
Zu verarbeiten gab es eine ganze Menge: Mira und ihr Mann stammen aus Syrien, schon auf ihrer Flucht haben sie traumatische Erfahrungen gemacht. Denn bei dem kleinen Boot, das sie Richtung Europa bringen soll, fällt inmitten des Mittelmeers der Motor aus. Sechs Stunden lang ist sie in Todesangst. Mira, damals hochschwanger, erinnert sich: "Ich habe zum Himmel geschaut und gesagt: 'Gott, bist du da?' Am Ende hat er mir noch eine Chance gegeben." Erfahrungen wie diese, so beschreibt es Mira, lassen die Familie, neben der gemeinsamen Tochter mittlerweile auf einen weiteren Sohn angewachsen, nicht mehr los. Ihr Mann wird gewalttätig. Er ist nicht viel älter als sie, jetzt 32, also auch noch "klein", wie sie es formuliert. Dagegen spürt sie heute noch, was sie alles erlebt hat: "Ich bin vielleicht erst 30, aber ich fühle mich wie 50."
Ihre sieben Jahre alte Tochter, die kurz nach der Flucht geboren wird, liegt in ihrer Entwicklung zurück, wohl auch eine Trauma-Folge. Sie spricht nicht und weint viel. Das belastet den Alltag weiter und sorgt dafür, dass Mira nicht arbeiten gehen kann. Dazu kommt eine anhaltende Nähe: Mira fährt nirgends allein hin, selbst den Einkauf erledigt sie in der Zeit ihrer Beziehung immer mit ihrem Mann gemeinsam mit dem Auto. In ihrer Zeit im Frauenhaus sei sie das erste Mal Bus gefahren, sagt sie.
Im Frauenhaus wartet neben der Verarbeitung des Erlebten viel Arbeit auf Mira. Es gibt Ansprechpartner für alles, um Anträge auszufüllen und sich an die richtigen Behörden zu wenden. Doch die viele Arbeit stört sie nicht, sagt Mira. Ihr hilft eine feste Wochenstruktur. An einem Tag gibt es einen Yogakurs, an einem anderen Kunsttherapie. Ein Ergebnis davon steht heute am Fenster neben dem Esstisch. Das Gemälde zeigt eine Frau, die das Gesicht gen Himmel streckt. Es heißt "Erlösung".
Kunst als Hilfsmittel und Zukunft
Die Kunst hat ihr nicht nur geholfen, sie soll auch ihre Zukunft sein. Mira hat Pläne gemacht: Sie will erst noch ihr Deutsch mit Kursen verbessern, der erste wurde ihr vor Kurzem genehmigt. Dann will sie eine Ausbildung zur medizinischen Kosmetikerin machen. Ihre Tochter besucht eine Förderschule und entwickelt sich mittlerweile gut. Wenn das so weiter geht, kann sie bald auf eine Regelschule. Der kleine Bruder, jetzt dreieinhalb, geht zu einer Tagesmutter. Das alles funktioniert in erster Linie, weil Mira extrem viel Initiative zeigt, sagt Maur. "Sie ist schon ein Vorzeigefall, eine sehr taffe Frau."
In der "Second Stage"-Wohnung führt Mira nun ein Leben auf eigenen Füßen, erledigt alle Dinge des täglichen Bedarfs selbst. Maur kommt zwei Mal die Woche vorbei, leistet soziale Unterstützung und Hilfe bei Behördengängen. "So etwas wie hier ist bei Weitem nicht für jede Frau etwas", sagt sie. "Dazu muss zum Beispiel die Sicherheitslage gut genug sein." Das ist auch für Mira relevant. Denn durch das Besuchsrecht der Kinder ist Mira weiter mit ihrem mittlerweile Ex-Mann konfrontiert. Der ist ihr auch schon im Bus nachgefahren und weiß, wo sie jetzt wohnt. Was sie tun kann? Die Polizei rufen, wenn es zu Belästigungen oder Stalking kommt. Bislang war das noch nicht nötig. Wenn doch, ist Mira damit erst einmal allein konfrontiert. Für sie kein Problem: "Das ist jetzt meine Aufgabe", sagt sie entschieden. Sie fühle sich hier sicher – und schätzt vielmehr die Vorteile, auf eigenen Füßen zu stehen. "Mein erster Tag hier war ein Traum", sagt sie. "Die Kinder haben ihr eigenes Spielzeug und ich habe mein eigenes Bett. Es ist so schön, etwas Eigenes zu haben."
Mira schaut aus dem Fenster. Noch wohnt sie hier allein, die andere Hälfte der Wohnung wartete noch auf eine Bewohnerin. Die beiden Frauen und ihre Kinder werden sich Wohnzimmer und Küche teilen, Kinder- und Schlafzimmer hat jede der Familien für sich. Ihre Zeit hier ist begrenzt, nur ein halbes Jahr ist für jede Frau hier angedacht, dann steht als nächster Schritt die eigene Wohnung an. Mira räumt die Teller wieder ab – ganz die Gastgeberin. Sie ist keine Frau großer Gesten und strahlt dennoch sehr viel Zuversicht aus. Dies ist ihr Reich, hier macht sie die Regeln, hier ist ihr Zuhause. Vor dem nächsten Schritt in den Alltag hat sie keine Angst. Sie vermittelt mit jedem Blick: Für diese Zukunft ist sie bereit.