Von wegen "schweigen": Frauen in den Pastoralbriefen
Die Rolle von Frauen erscheint für die Pastoralbriefe eindeutig geklärt: "Eine Frau soll schweigsam in aller Unterordnung lernen. Zu lehren aber gestatte ich einer Frau nicht, auch nicht einen zu beherrschen, sondern sie sollen schweigen" (1 Tim 2,11f.). Dabei leihen sich diejenigen, die hier sprechen, die Stimme des Paulus. Ihre kleine fiktive Briefsammlung lässt die Lesenden seit Mitte des 2. Jh. n. Chr. Paulus beim Gespräch mit seinen Lieblingsschülern Timotheus und Titus zuhören. Dabei werden sie über die in ihrem Sinne richtige Führung von Gemeinden und entsprechende Sitten und Ordnungen belehrt.
Diese generelle Aufforderung an Frauen, in der Öffentlichkeit zu schweigen, ist keineswegs originell. Was 1 Tim 2,11-12 formuliert, schreibt wenige Jahrzehnte vorher der griechisch-römische Moralphilosoph Plutarch (43-119 n. Chr.) in seiner Ehe-Ethik: "Es ist notwendig, dass nicht nur der Arm der besonnenen Frau, sondern auch ihr Wort nicht öffentlich ist. Phidias' Darstellung der Aphrodite von Elis mit dem Fuß auf der Schildkröte symbolisiert die Häuslichkeit der Frau sowie ihr Schweigen. Sie muss entweder zum Mann sprechen oder durch den Mann."
Ein zweiter Blick in die fiktive Briefsammlung zeigt allerdings, dass einige Frauen aus diesem Schweigegebot ausgenommen sind. Im Folgenden werde ich diese Frauen – nämlich ältere Frauen und Presbyterinnen – aus der Sicht der Pastoralbriefe vorstellen und außerdem fragen, warum ausgerechnet hier die längste Witwenregel im Neuen Testament zu finden ist.
Alte Frauen
Der jugendlich vorgestellte Timotheus soll die Jüngeren "wie Brüder und Schwestern" und die Älteren "wie Väter und Mütter" ermahnen. Die Gemeinde, auch Haus Gottes genannt (1 Tim 3,15), bildet eine Art Familie. Deren Generationenverhältnis bestimmt die Amtsfolge.
Timotheus verdankt sein Charisma – in den Pastoralbriefen eine Art Amtsbefähigung, die per Handauflegung vermittelt wird – mal einem "Ältestengremium" (presbyterium 1 Tim 4,14) und mal Paulus (2 Tim 1,6). Aber die Voraussetzung für seine Auswahl ist die Ausbildung, die er als Enkel bei seiner Großmutter Lois und als Sohn der Eunike genossen hat. Beide Frauen sind Vorbild für einen "ungeheuchelten Glauben" und haben ihn seit ersten Kindertagen im Glauben und die heiligen Schriften unterrichtet (2 Tim 1,5). Hier spiegelt sich die jüdische und griechisch-römische Hochschätzung von Bildung durch Großmütter und Mütter.
Überraschenderweise bewerten die Pastoralbriefe die Lehre der älteren Frauen gegensätzlich. Obgleich Timotheus "mit den Worten des Glaubens und der guten Lehre ernährt“" und "aufgezogen" wurde (1 Tim 4,6), soll er "die Fabeln und Mythen der alten Frauen" zurückweisen (1 Tim 4,7). Damit wenden sich die Pastoralbriefe gegen viele, die wie z.B. Plato die Erzählung von Ammenmärchen und Mythen in der frühen Bildung besonders schätzen. Aber auch Timotheus soll alte Frauen in die Pflicht nehmen, "gute Lehrerinnen" (kalodidaskaloi) zu sein, indem sie junge Frauen ermahnen "ihre Männer und Kinder zu lieben und sittsam und rein sich als gut in der Haushaltsführung zu erweisen" (Tit 2,3-5). Lehrmethode soll ihr vorbildlicher Lebenswandel sein. Den Pastoralbriefen ist die Bildungsfunktion von alten Frauen mehr als bewusst; sie ist grundlegend für den männlichen und weiblichen Nachwuchs – ist aber kaum zu kontrollieren.
Presbyterinnen
Der Kirchenvater Origenes (185-253/254) schreibt an einer Stelle: "Wundere dich auch nicht, wenn du das 'wenn sie den Heiligen die Füße wuschen' (1 Tim 5,10) in höherem Sinn verstehen musst", womit er analog anordnet, dass es neben den männlichen Ältesten auch weibliche Älteste und gute Lehrende geben muss (Tit 2,3). Origenes scheint somit davon auszugehen, dass die Pastoralbriefe das Amt der Presbyterin kennen – mit guten Gründen.
Viele Stimmen in der Antike bewerten das Alter aufgrund seiner Vernunft, Besonnenheit, Weisheit und Urteilsfähigkeit als besonders geeignet für öffentliche Aufgaben und Ämter. Aus vielen antiken Städten inklusive Jerusalem und Ephesus sind Ältestenräte bekannt. Solche Ältestenräte (gerusiai oder presbyteroi) unternehmen Gesandtschaften, unterstützen ihre Städte und Gemeinschaften als Wohltäterinnen und Wohltäter, üben Funktionen im Gymnasium, in den städtischen Religionen und im Richteramt aus. Das griechische Wort gerusia wird zur Standardübersetzung für das lateinische „Senat“, ein politisches Gremium, was sich zunehmend auch außerhalb von Rom etabliert. Und in einigen griechischen und kleinasiatischen Städten sind weibliche Mitglieder solcher Ältestenräte bekannt.
Auch die Pastoralbriefe kennen ein Ältestengremium. Nach 1 Tim 4,14 übernimmt es eine Rolle bei der Einsetzung von Amtsträgern. Nach 1 Tim 5,17-22(25) wird ihnen formell die Amtscharisma übertragen, sie dienen im Wort und in der Lehre, und zumindest die guten unter ihnen erhalten eine Bezahlung (1 Tim 5,17). Nach Tit 1,6f. sollen sie aus den Kreisen der dem Christusglauben anhängenden Familien ausgewählt werden. Eine genaue Ämterordnung wird in den Pastoralbriefen allerdings noch nicht deutlich, denn das Verhältnis zwischen Ältesten, Bischöfen und Diakoninnen und Diakonen bleibt nebulös. Jedoch – wie Origenes schon weiß und wie es auf Inschriften sowie in den Beschlüssen einiger Konzilien gut bezeugt ist – kennt die alte Kirche auch das Amt der Presbyterinnen. Ob die Idee des Presbyteriums nach den Pastoralbriefen Frauen mitdenkt – wie Origenes meinte – oder nicht, die Briefsammlung kann auf die Lehre der alten Frauen nicht verzichten. Ohne Mütter und Großmütter, ohne guten Unterricht in den heiligen Schriften, gelingt keine religiöse Sozialisation.
Witwen
Werden die Presbyterinnen und Diakoninnen (1 Tim 3,11) nur am Rande erwähnt, so beschäftigt sich 1 Tim 5,3-16 sehr ausführlich mit einer Gruppe von Frauen, die Witwen genannt werden. Das griechische Wort chēra bezeichnet dabei keineswegs allein Frauen, deren Ehemänner verstorben sind. Der Begriff umfasst alle unverheirateten Frauen und gelegentlich sogar Jungfrauen. Da in der Antike Ehen als privatrechtlicher Vertrag geschlossen werden, der das Vermögen der Frauen während und nach der Ehe regelt, sind Witwen nicht unbedingt mittellos. Sie müssen allerdings ihr Recht durchsetzen (vgl. Lk 18,2-5) und dazu steht ihnen nach biblischer Tradition Gott zur Seite (Dtn 10,18; Ps 68,5). Gott erhört die Bitten der Witwen und setzt sie ins Recht (Ex 22,21-23). Biblische Witwengeschichten zitieren untereinander immer wieder diese Tradition (Jdt 8-9; 1 Kön 17; Lk 7,11-17; Apg 9,38-42).
Im 1. Timotheusbrief wird Timotheus aufgefordert: "Ehre Witwen, die wirklich Witwen sind!" (1 Tim 5,3). Ausgeschlossen werden sollen solche, die Kinder oder Enkel haben (1 Tim 5,4.8), die im Luxus leben (1 Tim 5,6), unter 60 Jahren sind (1 Tim 5,11-15) und solche, die mit anderen zusammenleben, wie die Witwen um Tabita in Joppe (1 Tim 5,16; Apg 9,39-41). Die Differenzierung überrascht und sie kann kaum etwas mit der Bindungs- oder Mittellosigkeit der Frauen zu tun haben. Denn die Witwen, die Timotheus in eine Liste aufnehmen soll (1 Tim 5,9) haben "Fremde beherbergt", "Bedrängte unterstützt" und sollen "in jedem guten Werk nachgefolgt sein" (5,10). Die Bedingung, "Kinder aufgezogen" zu haben (5,10), ist nach Vers 4 und 8 gerade ein Ausschlussgrund. Angesichts der Bedingung der einmaligen Ehe (5,9) würde die Aufforderung an die jüngeren Witwen, erneut zu heiraten und Kinder aufzuziehen (5,14), sarkastisch wirken. Vor allem aber widerspricht der These einer Witwenversorgung das griechische Wort timan, das nicht nur mit "ehren", sondern auch mit "belohnen, bezahlen" übersetzt werden kann (1 Tim 5,3.17).
Predigtverbot für Frauen – bis heute?
Frauen sollen in der Kirche schweigen, steht bei Paulus. Gibt es da noch Interpretationsspielraum? Die Neutestamentlerin Barbara Lumesberger-Loisl ist davon überzeugt: In der Bibel gibt es genug Freiraum, um die biblische Botschaft für heute freizusetzen, schreibt sie in ihrem Kommentar.
Daher interpretieren einige 1 Tim 5,3-16 als einen Kriterienkatalog für die Aufnahme in ein bezahltes Witwenamt. Für diese These spricht die Parallele zu den Amtsspiegeln der Bischöfe, Diakoninnen und Diakone und Presbyter (1 Tim 3,1-13; Tit 1,6-9), das Verb "auflisten" (1 Tim 5,9) sowie die Tatsache, dass Kirchenordnungen und Grabinschriften aus dem späten 2. bis 5. Jh. existieren, die ein solches Amt belegen. Eine gewisse Spannung in der Darstellung erzeugt die Beobachtung, dass sich die aufzulistenden Witwen durch missionarische Taten in der Vergangenheit (1 Tim 5,9-10) auszeichnen, ihnen für die Gegenwart allerdings einzig die Aufgabe der Fürbitte zugesprochen wird (1 Tim 5,5). Die Kraft dieser Zwiesprache mit Gott im Gebet ist das Charakteristikum der frühjüdischen und frühchristlichen Witwentraditionen.
Das Stichwort "nachfolgen" (akolouthein) in 1 Tim 5,10 macht deutlich, dass die Witwen zu den frühesten Anhängerinnen Jesu gehörten und aktiv Mission betrieben. Auch die Witwen, die Timotheus ablehnen soll, sind äußerst aktiv (1 Tim 5,11-15). Die Pastoralbriefe behaupten: "Zugleich aber lernen sie auch faul zu sein, wenn sie in den Häusern herumlaufen; sie sind nicht nur faul, sondern sie verbreiten auch Unsinn und sind neugierig, wenn sie reden, was sich nicht gehört" (1 Tim 5,13). Hier sind mehr als seelsorgerliche Hausbesuche gemeint. Faulheit, Unsinn reden und Neugier sind stereotype Vorwürfe gegen Frauen nicht nur in der Antike. Dabei klingt im Wort periergos (neugierig) auch "Zauberei betreiben" an. Das Wirken der Witwen ist keineswegs harmlos. Auffälligerweise befinden sich die Missionarinnen anscheinend auch zahlreich auf der Seite konkurrierender Gruppen, die die Pastoralbriefe ausschließlich beschimpfen und bekämpfen (2 Tim 3,6-7).
Die Frage, ob die Pastoralbriefe bereits ein kirchlich verfasstes Witwenamt voraussetzen, muss offenbleiben. Jedenfalls aber rechnen sie mit größeren Gruppen von Witwen. Sie bestreiten auch nicht, dass die Witwen genannten Frauen durch ihre besondere Gottesbeziehung über eine große spirituelle Kraft verfügen (1 Tim 5,5). Darüber hinaus waren und sind sie mit Taten der praktischen Solidarität und des Gemeindeaufbaus (1 Tim 5,10) und durch Mission und Lehre (1 Tim 5,13) diakonisch tätig und theologisch produktiv.
Abschließende Betrachtung
In den letzten Jahren wurde kontrovers diskutiert, ob die Pastoralbriefe die Frauen generell von allen religiösen Rollen ausschließen oder ob die Betonung der Kardinaltugend sophrosyne „Keuschheit und Besonnenheit“ ihnen kulturspezifisch geschlechtstypische Führungsrollen innerhalb des Hauses zuweist und sie damit in gewisser Weise auch emanzipiert. Beide Thesen sehen Richtiges, sind aber allein nicht zutreffend. Denn die Position der alten Frauen und Witwen trägt in der gesamten Antike, aber auch explizit in den Pastoralbriefen, eine Spannung in sich, die Sprengkraft besitzt. Der in der Weisheit der Alten begründete Bildungsauftrag erstreckt sich immer über die Hausmauern hinaus ins Zentrum der gemeindlichen Führungspositionen. Auf die Kraft der Fürbitte und die theologische und diakonische Funktion der hier Presbyterinnen und Witwen genannten Frauen kann keine Kirche verzichten.
Zusammenfassung: Trotz 1 Tim 2,9-15 erkennen die Pastoralbriefe die Führungsverantwortung älterer Frauen an. Ihnen obliegt die religiöse Bildung ihrer Kinder und Enkel. Die Position der alten Frauen und Witwen birgt somit eine Spannung in sich, die Sprengkraft besitzt. Auf die Kraft der Fürbitte und die theologische und diakonische Funktion der hier Presbyterinnen und Witwen genannten Frauen kann keine Kirche verzichten.
Die Autorin
Angela Standhartinger ist Professorin für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg. Sie forscht u. a. zu Paulus und nachpaulinischer Literatur, antikem Judentum, der Entstehung des Abendmahls, veröffentlichte jüngst einen Kommentar zum Philipperbrief und arbeitet derzeit an der Kommentierung der Pastoralbriefe.
Hinweis
Dieser Artikel erschien zuerst in "Bibel und Kirche", Ausgabe 02/2023.