Pflegewissenschaftlerin: Botschaft Mutter Teresas von Wirken trennen
Mutter Teresa hat auch mehr als 25 Jahre nach ihrem Tod noch Strahlkraft. Dazu kommt aber auch Kritik an den Zuständen in ihren medizinischen und sozialen Einrichtungen. Anja Katharina Peters ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Dresden. Im Interview spricht sie zum Geburtstag der Heiligen über ihr Wirken, Spiritualität in der Pflege und notwendige Professionalität dabei.
Frage: Frau Peters, welche Bedeutung hat Mutter Teresa in der Pflege heute noch?
Peters: Ich glaube, dass Mutter Teresa heute immer noch viele Menschen inspiriert in Hinblick auf selbstlose und spontane Hilfe. Mutter Teresa steht dafür, dass Elend und Not wahrgenommen und gesehen werden und tatkräftig geholfen wird. Ich würde allerdings als Pflegewissenschaftlerin infrage stellen, ob Mutter Teresa für die professionelle Pflege des 21. Jahrhunderts ein relevanter Bezugspunkt ist. Das hängt damit zusammen, dass sie selbst keine Pflegefachfrau war und von daher als Rollenvorbild zumindest nicht ganz in der Tradition der Pflegegeschichte steht. Als Pflegefachpersonen sind wir verpflichtet, das professionell Beste für unsere Patienten zu tun. Das hat Mutter Theresa nicht getan. Ich glaube, dass wir heutzutage die spirituelle Botschaft, die Mutter Theresa mitbringt, von ihrem tatsächlichen Wirken trennen müssen.
Frage: Lassen Sie uns bei dieser spirituellen Dimension ansetzen. Mutter Teresa hat ihr Engagement immer wieder mit ihrem Glauben begründet. Würden Sie sagen, so eine Motivation ist grundsätzlich erst mal gut oder erst mal bedenklich?
Peters: Die Motivation an sich finde ich persönlich als glaubender Mensch gut. Im Ethikkodex für Pflegefachpersonen des Weltbundes der Krankenschwestern und Krankenpfleger ICN steht: "Pflegefachpersonen fördern ein Umfeld, in dem die Menschenrechte, Werte, Bräuche, religiösen und spirituellen Überzeugungen von Einzelnen, Familien und Gemeinschaften von allen anerkannt und respektiert werden. Die Rechte von Pflegefachpersonen sind Teil der Menschenrechte und sind zu wahren und zu schützen." (ICN 1.2) Das heißt, für Pflegefachpersonen, die selbst gläubig sind, kann dieser spirituelle Zugang eine enorme Kraftquelle sein. Problematisch wird es, wenn dieser Wunsch zu helfen und tätige Nächstenliebe zu praktizieren, dazu führt, dass von der Gesellschaft, von Arbeitgeberinnen, aber auch von Patientinnen und Klientinnen Selbstaufgabe erwartet wird. Die Krankenpflege wurde lange zum Liebesdienst stilisiert. Das führt dazu, dass auch im 21. Jahrhundert immer noch erwartet wird, dass Pflegefachleute grundsätzlich für Gotteslohn und aus innerer Motivation heraus arbeiten. Der Dank der Patientinnen möge doch bitte genug sein. Das ist schon sehr ambivalent. Einerseits kann der Glaube also eine Kraftquelle sein, andererseits kann aber diese spirituelle Dimension der Pflege auch dazu führen, dass Pflegefachpersonen ausgenutzt werden.
Frage: Sie haben das Stichwort Professionalisierung genannt. Mutter Teresa steht in einer langen Tradition: Im 19. Jahrhundert haben sich Orden und Gemeinschaften gegründet, die sich um die Armen in den Städten gekümmert haben, für die es damals noch nicht die Gesundheitsversorgung gab, die es heute gibt. Solche Einrichtungen gibt es bis heute. Wo sind da Punkte, wo man auf den Unterschied von kraftspendender, spiritueller Motivation und der nötigen Professionalität achten muss?
Peters: Mutter Teresa steht tatsächlich in einer Tradition der Gründung von Gemeinschaften im 19. Jahrhundert, vorwiegend von Frauen, die ganz eng mit dem bürgerlichen Frauenideal verbunden sind. Da sind wir dann bei Pflege als reinem Liebesdienst. Gleichzeitig ist Mutter Teresa mit ihrer relativ späten Gemeinschaftsgründung ein bisschen aus der Zeit gefallen. Die Gemeinschaften des 19. Jahrhunderts waren Gemeinschaften, in denen man tatsächlich großen Wert auf Ausbildung gelegt hat. Das war natürlich nicht eine Ausbildung, wie wir sie uns heute vorstellen, mit mindestens drei Jahren oder Hochschulstudium. Aber dort wurden nach den Möglichkeiten der Zeit sehr gut ausgebildet. Die älteren Gemeinschaften wie die Barmherzigen Brüder haben von Anfang an großen Wert auf Ausbildung, Dokumentation und ableitbares Handeln gelegt. Das sehe ich bei Mutter Teresa nicht. Sie hat sich vielmehr vielen Erleichterungen des 20. Jahrhundert wie etwa Schmerzmitteln aktiv verweigert. Schwierig wird es immer dann, wenn es zum Wohle des Patienten notwendig ist, dass wissenschaftsbasiert und evidenzbasiert gehandelt wird, dann aber Helfende ohne die entsprechende Vorbildung aus einem Helferimpuls notwendige Pflegeinterventionen konterkarieren oder zum Teil sogar aktiv behindern.
Frage: Weil Leiden in manchen Spiritualitäten als etwas Positives gesehen wird.
Peters: Genau. Bei Mutter Teresa steht immer der Vorwurf im Raum, dass Menschen in den Sterbehäusern möglicherweise eine Chance zu überleben gehabt hätten, wenn man sie in ein Krankenhaus gebracht hätte. Aber die Rettung der Seele stand halt im Vordergrund. Dann wird es nicht nur schwierig, dann wird es schädigend für die Patientinnen und Patienten. Dann kommen auch Pflegefachpersonen in ein ganz schwieriges Dilemma, weil wir nach dem ICN-Ethikkodex, der nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, die Aufgabe der Anwaltschaft für Patientinnen haben und aktiv unsere Patientinnen und Klientinnen schützen sollen. Wenn es dann aber so eine Lichtgestalt wie Mutter Theresia gibt, ist es schwierig, dagegen anzugehen.
Frage: Das heißt, es geht um Macht.
Peters: Ich weiß nicht, ob Mutter Theresa das als Macht empfunden hätte. Sie war ein Mensch, der andere inspirieren und begeistern konnte. Es wird natürlich immer sehr schwierig, wenn solche charismatischen Persönlichkeiten unkritisch gesehen werden. Es gehört zu einem professionellen Pflegeverständnis dazu, dass wir Lichtgestalten der Pflege durchaus auch kritisch betrachten – im Interesse der Patientinnen und Klientinnen.
Frage: Wir haben jetzt viel über Problematiken von spirituellen Beweggründen in der Pflege gesprochen. Hat denn ein spirituelles Grundinteresse auch einen nach vorne strebenden Effekt?
Peters: Ich sehe Spiritualität an sich ja als ausgesprochen positiv an und halte es für wichtig, dass Pflegefachpersonen ihre Spiritualität leben können. Ich finde es großartig, wenn Menschen auch aus dem christlichen Geist der Caritas heraus in die Pflege gehen. Das widerspricht eben nicht dem, was ich gesagt habe, dass es zu Selbstaufgabe führen kann. Damit muss man sorgsam umgehen. Ich glaube, dass ein aktives Glaubensleben eine ganz wesentliche Ressource für gläubige Menschen sein kann, ein Ruhepunkt. Ein Punkt, wo ich in einem Beruf, der mit enormer Verantwortung einhergeht, vielleicht in einer Krankenhauskapelle für fünf Minuten einfach mal diese Verantwortung abgeben und vor Gott bringen kann. Das Christentum ist eine Religion, die gelebt werden will. Es ist eben "Ora et labora". Das Tätige wohnt dem Christentum von Anfang an inne. Von daher kann die Pflege ein Beruf sein, in dem sich Spiritualität und Glaube ausleben können, wenn es in einem gesunden Maß bleibt und die Liebe zum Nächsten mit der Selbstliebe eine gute Balance finden.