Stephanie Butenkemper über Mechanismen von spirituellem Missbrauch

"We are family" – In den Fängen toxischer geistlicher Gemeinschaften

Veröffentlicht am 22.07.2023 um 00:01 Uhr – Von Stephanie Butenkemper – Lesedauer: 7 MINUTEN

Bonn ‐ Als hochgradig soziale Wesen sind Menschen auf Gemeinschaft angewiesen. Doch wird dieses Grundbedürfnis nicht selten missbraucht – auch von Gruppierungen in der katholischen Kirche. Die Machanismen sind dabei meistens die gleichen, schreibt die Therapeutin Stephanie Butenkemper.

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Als hochgradig soziale Wesen sind Menschen auf Gemeinschaft angewiesen. Gemeinschaft ist also erst einmal etwas Positives, das dem menschlichen Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit entspricht und Sicherheit vermitteln kann. Bei der Beschäftigung mit spirituellem und emotionalem Missbrauch, hat man es häufig mit toxischen Systemen zu tun, die genau dieses existentielle Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen und Gemeinschaft ausnutzen, um Menschen gezielt in Abhängigkeit zu bringen und zu manipulieren.

Wie schaffen es diese toxischen Gruppierungen, ihre "Beute" ins Netz zu bekommen? Und warum ist es für die geschädigten Personen oft kaum möglich, deiesem Netz zu entkommen, Grenzen zu setzen und auszusteigen? Mit genau diesen Fragen befasst sich eine qualitative Studie, in der acht Betroffene interviewt werden, die spirituellen Missbrauch in unterschiedlichen geistlichen Gemeinschaften innerhalb der katholischen Kirche erlebt haben. Ihre Erfahrungen sind dabei übertragbar auf diverse andere Kontexte religiöser Übergriffigkeit und Manipulation und können genauso oder in ähnlicher Weise in geistlicher Begleitung, Beichte, Orden, Gemeinde, Verbänden oder Familie stattfinden.

Eine zentrale Erkenntnis der Studie weist darauf hin, dass toxische Gemeinschaften ihre zukünftigen Mitglieder damit anlocken, dass sie eine Art Familienersatz anbieten. Werden Betroffene von spirituellem Missbrauch nach den Anfängen ihres Gemeinschaftslebens gefragt, beschreiben sie oft, dass sie die überwältigende Erfahrung gemacht haben, bedingungslos angenommen und willkommen geheißen zu sein. Bisher unbekannte Menschen begegneten ihnen unvoreingenommen mit großem Interesse, Offenheit, Neugierde, herzlicher Zugewandtheit und Freundschaft.

Der Begriff "Love Bombing", der heute vor allem in Bezug auf toxische Beziehungen verwendet wird, beschreibt dieses überbordende und manipulative Verhalten sehr gut und taucht bereits in den 1970er-Jahren im Zusammenhang mit Sekten auf. Die Kombination von einer solch intensiven "Beziehungspflege", der damit verbundenen Erfahrung von einem zunehmenden Zugehörigkeitsgefühl bewirkt bei den Mitgliedern der Gemeinschaft zunächst eine enorme Selbstwerterhöhung sowie ein Gefühl von Halt und Orientierung. Je mehr die meist jungen Menschen zeitlich und inhaltlich in die Projekte und Aktivitäten der Gruppierung eingebunden werden und Verantwortung übertragen bekommen, desto mehr wird diese zum alternativlosen Lebensmittelpunkt, um den sich alles dreht.

„Toxische Gemeinschaften unterstehen häufig einer charismatischen Führungsperson, die ihr machtvolles Auftreten spirituell legitimiert, etwa mit Hilfe von Narrativen, sie habe von Gott aus einer besonderen Erwählung heraus einen spirituellen Auftrag.“

—  Zitat: Stephanie Butenkemper

Die Gemeinschaft stiftet nicht mehr nur ein soziales Netzwerk, sondern stellt mit ihren klaren Regeln auch einen Lebenssinn zur Verfügung. Diese bieten den Mitgliedern eine Richtschnur und Sicherheit. Gleichzeitig ist das Lebenskonzept stark moralisch aufgeladen und geht mit einem enormen Leistungsdruck einher, etwa nach hochgesteckten Zielen wie der persönlichen Heiligkeit zu streben, die schlicht nicht erreichbar sind. Ein auf die Dauer frustrierendes und zermürbendes Unternehmen, dem sich die Mitglieder verpflichtet fühlen, da sie sich als Auserwählte einer "religiösen Elite" verstehen.

In der Folge werden andere Freundschaften, Beziehungen, Hobbys oder Interessen immer unwichtiger oder es fehlt schlicht die Zeit dafür, sodass nach und nach alle Brücken und Kontakte zur Außenwelt abgebrochen werden. All das ist gewollt und wird gezielt unterstützt. Auf diese Weise geraten betroffene Personen immer mehr in ein Kontrollsystem. Die Gemeinschaft stiftet nicht mehr nur ein soziales Netzwerk, sondern stellt mit ihren klaren Regeln, Idealen und Bestrebungen auch einen Lebenssinn zur Verfügung. Diese Aufteilung der Weltsicht in schwarz und weiß lässt keine Graustufen oder Kompromisse zu und wird sowohl spiritualisiert als auch legitimiert durch die Argumentation mit Bibelzitaten, christlicher Lehre, Idealen, Heiligensprüchen oder "Eingebungen" des Heiligen Geistes.

Der offizielle Stempel "katholisch" vermittelt Sicherheit

Begünstigt wird dieses Vorgehen durch gewisse Begleitumstände wie z.B. die kirchliche Anerkennung einer Gemeinschaft. Der offizielle Stempel "katholisch" oder vom Ortsbischof abgesegnete Statuten können den Eindruck vermitteln, sich in einem "sicheren Rahmen" innerhalb der katholischen Lehre zu bewegen. Hinzu kommt, dass toxische Gemeinschaften häufig einer charismatischen Führungsperson unterstehen, die ihr machtvolles Auftreten und ihre inhaltlichen Aussagen spirituell legitimiert, etwa mit Hilfe von Narrativen, sie habe von Gott aus einer besonderen Erwählung heraus einen Auftrag, eine Mission oder spirituelle Eingebungen erhalten, um der Gruppe dabei zu helfen, den Willen Gottes zu erkennen. Ein weiteres wichtiges Merkmal toxischer Gemeinschaften ist, dass es sich dabei um geschlossene Systeme handelt, bei denen die Grenzen nach außen rigide sind, so dass äußere Einflüsse kaum eine Chance haben, das innere Gleichgewicht der Gruppe zu irritieren.

Für Außenstehende sind die internen Prozesse verborgen wie in einer Black-Box, was dazu führt, dass Neuzugänge einer solchen Gemeinschaft anfangs noch nichts von den manipulativen und übergriffigen Methoden ahnen, die sie dort später erwarten. Sie geraten schleichend in eine Art Parallelwelt, in der bedenkliche Verhaltensweisen oder Inhalte nicht mehr hinterfragt werden dürfen. Gestützt wird dieses Konstrukt durch eine radikale Idealisierung der Gruppierung, die von sich behauptet, die "Wahrheit" zu haben, einem göttlichen Auftrag zu folgen und zu wissen, was gut für ihre Mitglieder sei.

Im eingeschlagenen Milchglasfenster einer Frauentoilette fehlt ein großes Stück Glas
Bild: ©Rony Zmiri – stock.adobe.com

Viele Betroffene ringen nach dem Ausstieg aus einer toxischen Gemeinschaft mit ihrem Glauben und ihrer Gottesbeziehung.

All diese Kennzeichen tragen dazu bei, dass toxische Gemeinschaften nach außen hin eine vertrauliche und familiäre Atmosphäre ausstrahlen. Eine vermehrte Ansprechbarkeit kann beobachtet werden, wenn Menschen sich zur Zeit des Erstkontakts mit der Gruppierung in einer Umbruchs- oder Orientierungsphase befinden, akut nach Sinn in ihrem Leben suchen oder über eine eher schwach ausgebildete Persönlichkeit verfügen, dadurch anfällig sind für einfache und schnelle Antworten. Dass einfache und schnelle Antworten auf komplexe Fragen angeboten werden, ist ein besonderer Reiz, der vom eigenständigen, oftmals anstrengenden Denken und Reflektieren "entlastet". Zudem haben betroffene Personen den Glauben häufig bereits als eine Ressource erlebt und sind auf der Suche nach einem Ort, wo sie diesen mit Entschiedenheit und im Austausch mit Gleichgesinnten leben können.

Betroffene leiden an Schuld- und Schamgefühlen

Diesen Ort finden sie in Gemeinschaften, deren Toxizität für sie oft erst viel zu spät sichtbar wird. Viele Betroffene leiden an Schuld- und Schamgefühlen, dass sie sich als erwachsene Menschen so haben manipulieren lassen. Daher ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die Schuld ausschließlich beim System und den entsprechenden Verantwortungsträger liegt. Sie haben die Freiheit der ihnen anvertrauten Personen untergraben und deren Vertrauen missbraucht, indem sie behaupteten, im "Namen Gottes" zu handeln. Schleichend, aber unaufhaltsam hat die Gemeinschaft ihren Einfluss im Leben der Mitglieder ausgeweitet und in entscheidenden Bereichen die Kontrolle übernommen. Sie ist zur tragenden Säule geworden, deren Wegbrechen für die betroffenen Personen unvorstellbar und angsteinflößend ist. Ein Ausstieg würde bedeuten, den Glauben zu verlieren, weil nach ihrer Logik ja nur die Gemeinschaft die "Wahrheit" hat und lehrt. Zudem ist oft die Überzeugung verbreitet, die Mitgliedschaft gründe sich auf eine göttliche Berufung. Damit einher geht die Angst, den persönlichen Lebenssinn zu verlieren, denn die Gemeinschaft ist zum alternativlosen Lebensinhalt geworden. Ein Ausstieg würde bedeuten, den Glauben zu verlieren, weil nach ihrer Logik ja nur die Gemeinschaft die "Wahrheit" hat und lehrt.

Manche müssen vor diesem Hintergrund oftmals bei null anfangen: sozial, finanziell oder beruflich. Nicht zuletzt ringen viele Betroffene nach einem Ausstieg mit ihrem Glauben und ihrer Gottesbeziehung. Ein Betroffener hat seinen Ausstieg aus einer toxischen Gemeinschaft mit folgenden Worten beschrieben: "Absprung schaffen [ist] das falsche Wort dafür, weil man geht aus solch einer Gemeinschaft raus mit dem Gefühl, nicht mehr leben zu können. Dem Gefühl, darin nicht leben zu können, aber auch draußen nicht leben zu können. Und das ist kein Absprung, das ist […] ein Fall in den Abgrund".

Um diesen Abgrund zu vermeiden, verharren viele Mitglieder im toxischen System. Umso mehr braucht es Aufklärung, fachliche Information und eine Enttabuisierung des Themas spiritueller Missbrauch. Nur so können Betroffene eine Sprache finden für das, was sie erleben, und können Seelsorger, Beraterinnen, Psychologen oder andere Außenstehende einordnen, was sie geschildert bekommen, die Menschen entsprechend unterstützen und auf einem Weg der Heilung und Befreiung begleiten.

Von Stephanie Butenkemper

Hinweis: Der Text wurde gekürzt und ist urprünglich erschienen in: Lebendige Seelsorge. Zeitschrift für praktisch-theologisches Handeln. zum Thema: Spiritueller Missbrauch. Echter Verlag, Heft 3 2023, Seite 179-193. 

Zur Person

Stephanie Butenkemper ist systemische Therapeutin und Ehe-, Familien- und Lebensberaterin und Mitarbeiterin in der katholischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien und Lebensfragen in Köln sowie Mitglied im Arbeitskreis Spiritueller Missbrauch des Bistums Dresden-Meißen und Referentin zum Thema spiritueller Missbrauch.