"Die Narben bleiben"
Frage: Herr Köhler, werden Sie die Gerichtsverhandlung verfolgen?
Köhler: Nicht persönlich. Aber es wird ein Vertreter von uns da sein.
Frage: Welche Bedeutung hat das Strafverfahren für die Aufarbeitung?
Köhler: Der Prozess ist für die von diesem Fall Betroffenen ein sehr wichtiger Schritt, wenngleich er auch anders ausgehen kann als sie sich das erhoffen. Für die Aufarbeitung der historischen Misshandlungs- und Missbrauchsvergangenheit von Kloster Ettal hat das Verfahren eher wenig Bedeutung, weil diese unabhängig davon seit 2010 gelaufen ist.
Frage: Wie lautet Ihre Bilanz?
Köhler: Es war am Anfang ein intensiver Kampf mit dem Kloster. Dann gab es eine Phase, wo wir Lösungen gesucht und gefunden haben, etwa bei Therapiehilfen, in der Entschädigungsfrage und bei der sozialwissenschaftlichen Analyse. Wenn man anschaut, was erreicht wurde bei uns im Vergleich zu anderen Stätten wie etwa den Regensburger Domspatzen, muss ich sagen: Bei uns ist der ganze Prozess sehr gut verlaufen. Wir haben keine offenen Punkte mehr. Ich wüsste nicht, was das Kloster noch weiter tun könnte.
Frage: Gibt es keine Verletzten, die weiter mit offenen Wunden herumlaufen?
Köhler: Mancher, der so etwas erlebt hat, kommt nicht aus sich heraus. Doch wer sich nicht anderen mitteilt, dem kann man auch nicht helfen. Von daher gibt es sicher etliche Alt-Ettaler, die das mit sich herumschleifen. Ich weiß auch von einigen, die noch sehr viel Wut in sich tragen. Aber es ist nicht klar, wie man die kanalisieren kann. Unser Ziel war immer, dass es für alle ein gutes Ende gibt. Das entlastet ein Stück. Für mich persönlich etwa war es wichtig zu wissen, dass die Zustände in Schule und Internat von Kloster Ettal heute okay sind, dass die Standards in Ordnung sind und keine Straftaten mehr toleriert werden.
Frage: Erhält das Erlittene dadurch nachträglich einen Sinn?
Köhler: So etwas gibt es nicht. Sehr viele sind 2010 von ihrem Trauma eingeholt worden und haben gesagt: Mensch, hätten wir das doch bloß nicht wieder aufgewärmt.
Frage: Sie haben viel erreicht. Es gab auf Ihr Drängen hin sogar eine externe Studie zu Missbrauch und Misshandlung in Kloster Ettal.
Köhler: Ein wichtiger Schlüssel im Verarbeitungsprozess ist, dass solche Missstände anerkannt werden. Das ist in Ettal geschehen. So hat jeder verstanden: Die stehen dazu und übernehmen dafür Verantwortung. Entscheidend war die Veröffentlichung der Wissenschaftler vor knapp zwei Jahren. Wenn man nachliest, welches Ausmaß die Übergriffe hatten, mit welchen Folgen für die Betroffenen, kann man das nicht mehr mit Sprüchen wie "Geschlagen wurde früher doch überall" vom Tisch wischen. Danach wurde es ruhig, weil das Aggressionspotenzial auf unserer Seite weg war.
Frage: Was steht noch aus?
Köhler: Es wird zwei Denkmäler geben, die sich ergänzen werden. Die Mönche wollen von sich aus ein Relief erstellen lassen mit Szenen aus der Passionsgeschichte. Unser Verein stellt sich eine Skulptur vor, die Lehrer, Erzieher und Heranwachsende in Schule und Internat zum Nachdenken anregen soll: Wo werden Grenzen überschritten, wann ist es Zeit, einen Verdacht nicht mehr für sich zu behalten und in die Opposition zu gehen?
Frage: Sie haben einmal gesagt, größter Wunsch der Opfer sei es, mit dem erlittenen Unrecht abschließen zu können. Hat er sich erfüllt?
Köhler: Jeder muss mit seinem Päckchen leben, das er hier mitbekommen hat. Die Narben bleiben, aber das Thema Kampf kann man abschließen.
Frage: Würden Sie heute Ihre Kinder auf eine Klosterschule schicken?
Köhler: Meine Kinder sind nicht katholisch. Generell würde ich meine Kinder nicht in ein Internat geben, solange es die Zustände daheim ermöglichen. Allerdings sind auch meine Kinder täglich bis um fünf Uhr nachmittags organisiert untergebracht. Die Tagesbetreuung wurde in den letzten Jahren fast überall massiv ausgebaut. Auch da muss man wachsam bleiben für die Gefahr von Missbrauch zwischen Erwachsenen und Kindern, unter Kindern und für das Thema Mobbing.
Von Christoph Renzikowski (KNA)