Barock im Kiez: St. Joseph an der Großen Freiheit in Hamburg
"Eigentlich sind wir eine ganz normale Gemeinde", sagt Karl Schultz. Er ist Pastor von St. Joseph in Hamburg. Dann sagt er: "Unsere Kirche ist inmitten einer schrillen und bunten Stadtlandschaft" und meint damit Bordelle, Kneipen und Diskotheken. Denn seine Kirche liegt in St. Pauli, Anschrift: Große Freiheit 41.
Zu seiner Gemeinde gehören alle, betont der Kiez-Pastor: "Menschen, die über Generationen hier leben und Menschen, die zugezogen sind." Aber auch Touristen, die nur für ein paar Tage in Hamburg unterwegs sind, heißt er willkommen. "Viele sind überrascht, in dieser Gegend eine Kirche zu finden", sagt er.
Am Wochenende schieben sich Tausende durch sein Gemeindegebiet – Party, Sex und Alkohol sind allgegenwärtig. "Man muss sich das so vorstellen, dass Donnerstag eine Dauerparty beginnt; die wird jeden Tag etwas lauter, schriller und es werden immer mehr Menschen", erzählt Schultz. "In der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag hat diese Party ihren Höhepunkt. Dann öffnen wir die Kirche." Die Veranstaltung heißt "St. Joseph By Night". Bei Musik und Gebet können Besucherinnen und Besucher im Kirchenraum zur Ruhe kommen. An diesen Abenden sind es bis zu 600.
Manche würden nicht erwarten, dass die Gemeinde nachts ihre Türen öffne, sagt Schultz. Doch genau das sei Kern seiner Pastoral. "Kirche gehört doch dazu", findet er. "Nur wenn sie sich nicht einmauert, erfüllt sie aus meiner Sicht ihren Anspruch und Auftrag."
Einige kämen rein, "knipsen und gehen wieder raus", sagt er. Aber einige ließen sich auf die Atmosphäre des barocken Raumes ein. "Vielleicht waren sie vorher noch in einem Club, in einer Kneipe und dann spüren sie instinktiv das Anderssein dieses Raumes." Viele machten die Erfahrung, dass sie "von dieser Atmosphäre überwältigt werden". Oft kämen dann auch "Probleme, Alltagsgeschichten, die wie mit einem Tuch überdeckt sind, zum Vorschein". Dann stehen er und sein Pastoralteam für ein Gespräch zur Verfügung. "Ich muss keine großen Worte machen, das ergibt sich schon alles", sagt er.
Buch über das Leben als Kiez-Pastor
Auch wenn es auf St. Pauli wieder ruhiger wird, ist der Geistliche präsent. Er sei hier "bekannt wie ein bunter Hund", sagt er. Als er 2010 die Pfarrstelle antrat, musste er einiges lernen, schreibt er in seinem Buch "Zwischen Kirche und Kiez: Ansichten eines Pfarrers". So stellte er beispielsweise fest, dass die Bezeichnung "Hure" ("Ich kannte sie ja sogar aus der Bibel") auf dem Kiez eine ehrenvolle Titulatur sei, "Nutte" hingegen "eine tiefe Beleidigung".
Mit der Zeit habe er in der Szene Fuß gefasst und Freundschaften geknüpft. Befreundet ist er mit Hamburger Stars und Sternchen. So wundert es nicht, dass Udo Lindenberg vor einigen Jahren eine Bilderserie zu den Zehn Geboten in der Kirche ausstellte. Zu Feierlichkeiten der Gemeinde kommt neben dem Erzbischof auch die Hamburger Prominenz in seine Kirche.
Mit seiner Nachbarin, der Travestiekünstlerin Olivia Jones, veranstaltete er dann während des ersten Lockdowns eine Mahnwache zum Erhalt der Hamburger Kiez-Kultur. Schultz organisiert ökumenische Open-Air-Gottesdienste auf dem Spielbudenplatz oder lädt zu Seelsorgegesprächen in Kneipen. Eine davon heißt "Sünde". Der Wirt habe ihn eingeladen, ein- bis zweimal im Monat dort eine Sprechstunde zu halten. Die Gespräche seien gut, erzählt er. Aber über Inhalte spricht der Seelsorger nicht.
Erste katholische Kirche nach der Reformation
"Es gibt nichts, womit Jesus nicht fertig wird", steht an der Schwelle zum Kirchenvorplatz von St. Joseph. Dahinter thront die barocke Backsteinfassade. Symmetrisch wird sie von der polnischen Mission und dem Pfarrhaus gerahmt. In diesem Jahr feiert St. Joseph 300-jähriges Bestehen. Sie ist die erste nach der Reformation in Nordeuropa errichtete katholische Kirche und die älteste katholische Gemeinde Norddeutschlands. Zu Hamburg gehört sie erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Zuvor war Altona eine eigenständige Stadt – bis Mitte des 19. Jahrhunderts auf dänischem Grund.
Ihr Standort erklärt, warum heute im protestantischen Hamburg eine so alte katholische Kirche zu finden ist: 1594 erhielt ein florentinischer Kaufmann das vorläufige Recht, katholische Gottesdienste in Altona zu feiern. Nebenan im lutherischen Hamburg wäre dieses Privileg undenkbar gewesen – schließlich wollte man sich vor einer etwaigen Rekatholisierung schützen. 1658 erteilte dann der dänische König Friedrich III., in dessen Besitz sich Altona befand, der katholischen Gemeinde das unbefristete Recht freier Religionsausübung. In Erinnerung an diese Zulassung, heißt die Straße vor der Kirche noch heute "Große Freiheit".
Jedoch war die Religionsausübung an dieser Stelle nur bedingt frei. Die katholischen Gottesdienste waren zu feiern, "daß solches in der stille ohne weitleuffigkeiten und ohne Haltung der bey den Catholischen sonst üblichen processionen" zu geschehen hat. 1723 weihte die Gemeinde schließlich die barocke Josephs-Kirche ein.
Etwa 100 Jahre später stießen sich viele Kirchgänger an der besonderen Lage ihrer Kirche. Mittlerweile gab es rund 25 Vergnügungslokale in unmittelbarer Nachbarschaft des Gotteshauses. In seiner Not schickte der Pfarrer Bettelbriefe an potenzielle Unterstützer – in der Hoffnung, an einen "schicklicheren Ort" umzuziehen. Ihm war es unangenehm, dass seine Schäfchen auf dem Weg zum Gottesdienst an übernächtigten und betrunkenen Gestalten vorbeigehen mussten. Selbst Ordnungskräfte hatten Probleme, die Sicherheit an diesem "liederlichen Orte" aufrechtzuerhalten. Das Betteln des Pfarrers hatte keinen Erfolg – die Kirche blieb am Ort.
Was kann die Kirche von St. Pauli lernen?
Aus der Geschichte seiner Kirche könne man heute vieles lernen, sagt Schultz. Der Ansatz der "Großen Freiheit", gegenseitiger Respekt und Toleranz, müsse jeden Tag gelebt werden. "Das heißt nicht, dass man sich anbiedern muss. Und erst recht nicht, dass man zu allem Ja und Amen sagt, aber das heißt in erster Linie, dass man mit einer Offenheit erst mal Menschen begegnet und nicht schon Vorurteile im Kopf hat."
Das sieht er – wie sollte es anders sein – auch nicht als ein Spezifikum seiner Gemeinde. "Diesen Anspruch muss jede Gemeinde und jeder Geistliche haben", sagt er. Kirche müsse sich mit ihrer Umgebung verbinden und sich für den Ort und für die Menschen interessieren. "Dann entstehen im besten Sinne des Wortes Beziehungen. Davon leben wir."
Schultz ist nun seit 13 Jahren Seelsorger auf dem Kiez. "Ich bin sicher offener und entspannter geworden in dieser Zeit", sagt er. Trotzdem gebe es noch heute herausfordernde Situationen – aber da bekomme er keine Panik, sondern sei "einigermaßen entspannt". Seine Arbeit rund um die Reeperbahn versteht er nicht als Einbahnstraße: "Wenn es eine offene Begegnung gibt, dann bin auch ich immer ein Lernender." Offenheit, Respekt und Toleranz, das ist ihm wichtig. Und: "Die Werte, die hier auf Sankt Pauli gelebt werden." Das tue auch der Kirche gut.