Wie die frühen Christen die Lücken im Lebenslauf Jesu gefüllt haben
In jeder Erzählung gibt es Lücken, Nicht-Erzähltes oder Erklärungsbedürftiges, das später Lesende oder Hörende zu eigenem Weiterdenken anregt. Manchmal entsteht daraus eine neue Erzählung, die in den Köpfen ihrer Rezipient:innen untrennbar mit der ursprünglichen Erzählung verwoben ist und eigene Wirkmacht entfaltet.
Wer in der beeindruckenden frühchristlichen Basilika Santa Maria Maggiore in Rom steht und die prächtigen Mosaikdarstellungen an den Wänden betrachtet, wundert sich vielleicht. Oben links am Triumphbogen ist Maria dargestellt, wie sie aus einem Korb zu ihrer Rechten rote Wolle zieht und bearbeitet, während ihr der Engel Gabriel die bevorstehende Schwangerschaft mit Jesus, dem Gottessohn, ankündigt. Häufig ist Maria in diesen Verkündigungsszenen beim Lesen der Heiligen Schrift zu sehen. Warum also ist sie hier mit einer Handarbeit beschäftigt? Wenn wir in den biblischen Text schauen, dann steht in Lk 1,26–38 freilich gar nichts davon, was Maria gerade tut, als Gabriel mit seiner erstaunlichen Botschaft bei ihr eintritt. Die Szene lädt also geradezu dazu ein, sich das vorzustellen, was hier offengelassen wird. Und das ist bereits vor dem Entstehen der Mosaiken von Santa Maria Maggiore geschehen. Ein Text, der später unter dem Namen "Protevangelium des Jakobus" (ProtevJac) bekannt wird und vermutlich um 200 n. Chr. entstanden ist, schildert, wie Maria als eine von sieben ausgewählten Jungfrauen an der Herstellung eines Vorhangs für den Jerusalemer Tempel arbeitet, als Gabriel bei ihr erscheint. Auch die Farbe des von ihr bearbeiteten Materials ist nicht zufällig, sondern wurde zuvor durch das Los bestimmt: echter Purpur und Scharlachrot. So erzählt es zumindest das erwähnte "Protevangelium" (ProtevJac 10–11), das noch einige andere Details über das Leben Marias vor und nach der Verkündigung bereithält.
Legenden und Theologie
Es handelt sich dabei zweifellos um legendarische Geschichten, so wie auch die Geburtsgeschichten im Matthäus- und Lukasevangelium legendarische Züge tragen und nicht in einem modernen Sinne historisch auswertbar sind. Wäre das der einzige Zugang zu einem Text wie dem "Protevangelium", dann könnten wir ihn schnell wieder beiseitelegen. Dann bliebe aber auch eine Darstellung wie die anfangs erwähnte für uns nur eine zufällige künstlerische Umsetzung. Hinter der Arbeit Marias am Tempelvorhang steckt aber eine längere Geschichte, die das Protevangelium vom Aufwachsen der drei- bis zwölfjährigen Maria im Jerusalemer Tempel erzählt (Protev-Jac 7,1–8,2) und deren Pointe in ihrer Bewahrung vor aller Unreinheit liegt. Denn nur so ist es aus der Perspektive des Textes denkbar, dass sie als Mensch zur Mutter Gottes werden kann. Genau das beschließt im Jahr 431 n. Chr. auch das Konzil von Ephesus, indem es Maria das offizielle Prädikat der "Gottesgebärerin" (theotokos) verleiht. Letztlich ist es also Theologie, die im "Protevangelium" im Gewand einer Erzählung begegnet, von dort weiterwirkt und gerade in der Form des Erzählens noch einmal einen ganz eigenen und oft leichter verständlichen Zugang eröffnet.
Das "Protevangelium des Jakobus" ist nicht der einzige Text, der auf diese Weise biographische Lücken zu schließen versucht, die die Jesuserzählungen der vier kanonischen Evangelien lassen. Während im "Protevangelium" vor allem die Geschichte Marias von ihrer Empfängnis bis zur Geburt Jesu im Zentrum steht, erzählt das sogenannte "Kindheitsevangelium des Thomas" (KThom) von Begebenheiten aus dem Leben des fünf- bis zwölfjährigen Jesus. Andere Texte beleuchten zum Beispiel die näheren Umstände von Tod und Auferstehung Jesu oder fragen genauer nach der Rolle der Frauen in seiner Nachfolge. Sie alle bieten damit auf narrative Weise Theologie und zeugen von der großen Initialkraft der ihnen vorausliegenden Erzählungen der Bibel – sei es, dass diese den Ausgangspunkt für eine Weitererzählung bieten oder dass sie wichtige Motive liefern oder beides. Dass sie damit ein "Erfolgsmodell" darstellten, obwohl sie von offizieller kirchlicher Seite oft gar nicht so sehr geschätzt und zum Teil sogar verboten wurden, zeigen zum einen die vielen Manuskripte, die (zumindest von einigen von ihnen) erhalten sind. Aber auch die vielfältig variierenden Weiterschreibungen und eine Fülle von Übersetzungen, die bereits in spätantiker Zeit entstehen und bis ins Mittelalter reichen, zeugen davon. Aus der Frömmigkeitsgeschichte des Christentums sind diese Texte daher nicht wegzudenken. Bis heute spielen sie eine wichtige Rolle, wenn wir jedes Jahr zu Weihnachten beispielsweise ganz selbstverständlich Ochs und Esel an die Krippe stellen, von denen weder im Matthäus- noch im Lukasevangelium ausdrücklich die Rede ist (vgl. hierzu aber das sog. Pseudo-Matthäusevangelium, Kap. 14). Es lohnt also, im Folgenden noch ein paar Streiflichter auf solche wirkmächtigen Fortschreibungen zu werfen.
Über Marias Geburt und Herkunft
Wieder können wir den Ausgangspunkt bei den bildlichen Ausschmückungen in frühchristlichen und mittelalterlichen Kirchen nehmen. Manchmal findet man dort eine Darstellung der Geburt, die man vielleicht zuerst für diejenige von Jesus halten könnte, wäre da nicht ein Bett, in dem die Mutter liegt, und eine Hebamme, die das Neugeborene wäscht. Sämtliches Stall- oder Höhlen-Ambiente fehlt also. Tatsächlich handelt es sich bei dem Säugling um Maria, und im Wochenbett erholt sich ihre Mutter Anna von einer wundersamen Geburt bereits nach sechs Monaten der Schwangerschaft. Diese Zeitspanne lässt sich auf einem Bild natürlich nicht darstellen, wird aber im "Protevangelium des Jakobus" (5,2) als eines von verschiedenen Anzeichen der besonderen Reife Marias beschrieben. Dass sie ihren Eltern, Anna und Joachim, außerdem erst nach einer langen Zeit der Unfruchtbarkeit geschenkt wird, greift ein bekanntes biblisches Motiv auf (ähnlich geht es Sara und Abraham, Rahel und Jakob, Hanna und Elkana) und hebt damit noch einmal auf eine andere Weise die Besonderheit dieses Kindes hervor. Es wird geboren, weil Gott es möglich macht und will (ProtevJac 1,2–4,4). Danach erzählt das "Protevangelium des Jakobus", wie Maria in völliger Reinheit und Abgrenzung von allem Profanen zuerst im Haus der Eltern (6,1–7,2), danach im Tempel aufwächst (7,2–8,2). Auch daher ist es nur folgerichtig, wenn bereits bei der Geburt die entsprechenden bildlichen Darstellungen das Haus als schützendes Umfeld von Maria darstellen und ihr Leben mit einem Bad beginnen lassen. (Der Text erwähnt nur die Hebamme, was sie mit einem frisch geborenen Säugling tut, lässt sich aber aus der Lebenserfahrung erschließen und gewinnt für Maria noch einmal besondere Bedeutung.) Als der oben schon erwähnte Tempelvorhang hergestellt werden soll, wird Maria als eine von sieben Jungfrauen aus dem "Stamm Davids" auserwählt. Fast beiläufig wird damit eine davidische Abstammung für sie in Anspruch genommen, wie wir sie aus Mt 1,16 (vgl. auch Lk 2,4) nur für Josef kennen. Der Autor des "Protevangeliums" hat aber ganz treffend erkannt, dass der kunstvoll gestaltete Stammbaum Jesu in Mt 1,1–17 mit seinen dreimal vierzehn Gliedern letztlich nur auf Josef, seinen Adoptiv-Vater, hinausläuft und somit die Davidssohnschaft Jesu nicht schlüssig begründen kann. Daher erzählt er von Maria als einer aus dem Geschlecht Davids, während die Herkunft Josefs nicht näher beschrieben wird.
Die Geschwister Jesu
Dass Jesus Geschwister hat, wird an verschiedenen Stellen des Neuen Testaments erwähnt. Mk 6,3 (par. Mt 13,55) nennt sogar vier Brüder mit Namen, während die Schwestern anonym bleiben – wie Frauen so oft in Texten jener Zeit. Besonders Jakobus tritt in nachösterlicher Zeit dann als wichtiger Vertreter der Jerusalemer Gemeinde auf (vgl. Gal 1,19; 2,9; Apg 15,13–21 u. ö.). Mit der oben bereits angesprochenen Vorstellung von der bleibenden Jungfräulichkeit Marias verträgt sich das jedoch schlecht. Das "Protevangelium des Jakobus" (9,2) erzählt daher davon, dass Josef bereits Witwer war, als er Maria in seine Obhut nahm. Die Schwestern und Brüder entpuppen sich somit als ältere Halbgeschwister Jesu und stellen kein Problem mehr für Marias Unberührtheit dar. Jakobus dient dem Text (25,1) außerdem als (fiktiver) Autor, der aufgrund seiner familiären Nähe zu den berichteten Ereignissen als besonders geeignet und verlässlich erscheint. Im "Kindheitsevangelium des Thomas" dagegen, von dem erste Fassungen vermutlich bereits im 2. Jahrhundert entstehen, begegnet uns Jakobus ganz ohne ein solches Problembewusstsein als Bruder Jesu, den er beim gemeinsamen Holzsammeln vom Biss einer giftigen Schlange heilt (KThom 16 – eine ähnliche Geschichte über Paulus in Apg 28,3–6 mag hier die Motive geliefert haben). Das passt dazu, dass das "Kindheitsevangelium" insgesamt wenig Interesse an Maria überhaupt zeigt. Im Vordergrund steht vielmehr das Verhältnis, das der heranwachsende Jesus zu seinem (Zieh-)Vater Josef hat, und die Frage, wie er überhaupt als Kind zwischen fünf und zwölf Jahren aufgewachsen sein mag (vgl. dazu neutestamentlich immerhin Lk 2,41– 52).
Aus Mk 6,3 erfahren wir nicht nur etwas über die Geschwister Jesu, sondern auch, dass Jesus Zimmermann (tekto¯n) gewesen sei. Von einem irdischen Vater Jesu hören wir im ältesten der vier Evangelien dagegen gar nichts. Die größte, wenn auch immer noch sehr beschränkte Rolle spielt Josef in der matthäischen Weihnachtsgeschichte (Mt 1–2). In Mt 13,55 taucht er noch einmal indirekt auf, indem Jesus von den Leuten in Nazaret als "Sohn des Zimmermanns" bezeichnet wird. Matthäus deutet damit an, was in der damaligen Lebenswelt üblich war und sich aus Mk 6,3 auch ohne explizite Erwähnung erschließen ließ: Wenn der Sohn Zimmermann war, dann auch der Vater, von dem der Sohn dieses Handwerk in aller Regel lernte. Das "Kindheitsevangelium" malt diese Situation narrativ aus, wenn auch in signifikanter Vertauschung der Rollen. Denn es wird erzählt (KThom 13), wie Josef in seiner Werkstatt an der Aufgabe zu scheitern droht, ein Bett für einen reichen Kunden zu bauen. Eines der Seitenbretter ist ihm zu kurz geraten. Der achtjährige Jesus, der mit ihm in der Werkstatt ist, weist ihn daraufhin an, die eine Seite festzuhalten. Indem er von der anderen Seite das Brett auf die richtige Länge zieht, bewahrt er Josef vor einer beruflichen Blamage. Die Frage, was ein Gotteskind eigentlich von menschlichen Lehrern lernen könnte, behandelt das "Kindheitsevangelium" auch in insgesamt drei Schulepisoden. Zwei Lehrer scheitern dabei an ihrer Aufgabe (KThom 6–8 und 14). Auf ihren Versuch hin, dem fünf- bzw. achtjährigen Jesus zuerst einmal das Alphabet beizubringen, stellt dieser ihnen – gelangweilt von Dingen, die er längst weiß – kluge Gegenfragen, die sie nicht beantworten können. Derart in die Enge getrieben, traktieren sie den unbotmäßigen Schüler mit Schlägen.
Die Erzählung im "Kindheitsevangelium" malt daraufhin aus, wie Jesus wütend wird, den ersten Lehrer mit seinem Nicht-Wissen in aller Öffentlichkeit bloßstellt und den zweiten Lehrer mit einem Fluch schlägt, so dass er (wie) tot zu Boden fällt. Nur der dritte Lehrer (KThom 15) kann bestehen, weil er erkennt, welche Weisheit in Jesus steckt, und sich daraufhin selbst in die Rolle des lernenden Zuhörers begibt. Nur so, will die Erzählung im "Kindheitsevangelium" verdeutlichen, begegnet man Jesus in adäquater Weise: wenn man ihm zuhört und von ihm lernt, nicht umgekehrt. Im Anschluss erbarmt sich Jesus immerhin auch des zweiten Lehrers und stellt ihn wieder her.
Auch Jesus muss lernen
Dennoch muss auch Jesus im "Kindheitsevangelium" etwas lernen, was ihm freilich kein Mensch beibringen kann: wie er nämlich mit seiner göttlichen Kraft angemessen umgeht. Die auf den ersten Blick befremdlichen Flüche und Strafwunder, die zum Teil auch andere Kinder treffen, die beim Spiel mit Jesus aneinandergeraten (KThom 3–4), zeigen, dass sein wunderwirkendes Wort prinzipiell lebensrettend und lebenszerstörend sein kann. Dass das "Kindheitsevangelium" diese beiden Optionen konsequent narrativ durchdenkt, hat ihm nicht nur Zustimmung eingebracht. Ist die erzählerische Imaginationskraft hier vielleicht doch zu weit ausgeufert und muss theologisch kritisiert werden? In der im 20. Jahrhundert aufblühenden Apokryphenforschung ist diese Art der erzählerischen Füllung biographischer Lücken nicht selten als verwerfliche "fromme Neugier" und sogar als Geschmacklosigkeit charakterisiert worden. Entscheidend bleibt für eine Beurteilung aber, dass man das "Kindheitsevangelium" nicht losgelöst von jener Jesusgeschichte lesen sollte, die die neutestamentlichen Evangelien erzählen. Denn dieser Jesus ergreift die Option gerade nicht, die das "Kindheitsevangelium" für das Kind Jesus zumindest in Ansätzen durchspielt. Er verflucht jene nicht, die ihn verletzen oder bedrohen, sondern geht, obwohl er unschuldig ist, in den Tod. Dass dieser Weg für einen Gottessohn nicht selbstverständlich, sondern gerade in seiner Ungewöhnlichkeit höchst bedeutsam und heilvoll ist, unterstreicht das "Kindheitsevangelium" durch seine "Gegengeschichten".
Dabei zeigt der Text eine Freude am Fabulieren, die ein heutiges Publikum im Hinblick auf das gängige Jesusbild zweifellos zu irritieren vermag. (Sicherlich haben auch pagane Geschichten von außergewöhnlichen Götterkindern einen Beitrag zur Erzählung geliefert: Herakles etwa tötet bereits in der Wiege Schlangen, die Hera zu seinem Schaden gesandt hat). Zum Schluss aber überwiegen jene Geschichten, in denen Jesus seine Wunderkraft und große Weisheit zu Gunsten anderer einsetzt. Zugleich bedient der Text ein zutiefst menschliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit, zum Beispiel wenn jene Pädagogen öffentlich bloßgestellt werden, die die von ihnen gelangweilten Schüler nicht zu motivieren, sondern nur mit Strafen zu disziplinieren wissen.
Ähnlich wie die Vorgeschichte und die Kindheit Jesu, bieten auch das Ende des Lebens Jesu und die Zeit kurz nach der Auferstehung beliebte Anknüpfungspunkte für narrative Weiterführungen. Lenken wir den Blick auf Frauen in der Jesusnachfolge, so gewinnt besonders der Moment, in dem die Jünger bei der Festnahme Jesu fliehen, an Bedeutung. Denn erst jetzt werden im Text jene Frauen sichtbar, die zweifellos auch zuvor schon zur Schar der Nachfolgenden gehörten, aber meist im generischen Maskulinum verborgen blieben. Die bekannteste unter ihnen ist Maria von Magdala. In den vier kanonisch gewordenen Evangelien begegnet sie namentlich erstmals unmittelbar nach dem Tod Jesu mit Ausnahme von Lukas, der sie immerhin schon einmal kurz in Lk 8,2 erwähnt. Dass das Neue Testament so wenig von dieser Frau berichtet, die immerhin in allen vier Evangelien zu den ersten Auferstehungszeuginnen gehört (und in Joh 20 sogar die einzige ist), hat zweifellos das Interesse und die narrative Imagination beflügelt. In verschiedenen frühchristlichen Evangelien, die nicht in den biblischen Kanon aufgenommen wurden, spielt sie eine größere Rolle.
Im zweiten Jahrhundert entsteht sogar ein Evangelium unter ihrem Namen (EvMar). Aufschlussreich ist vor allem das gespannte Verhältnis, das dort nach der Auferstehung Jesu zwischen ihr und Petrus greifbar wird. Petrus lädt Maria einerseits ein, als jene Frau, die "der Erlöser mehr liebte als die übrigen Frauen", von ihren Erinnerungen an die Worte Jesu zu berichten (EvMar, BG 1, p. 10,1–6). Als Maria dann aber von einer Vision erzählt, in der Jesus mit ihr sprach, stellt er ihre Worte als Lüge hin und weitet die Kritik ins Generelle aus: "Hat er [Jesus] tatsächlich heimlich vor uns [Jüngern] mit einer Frau gesprochen und nicht öffentlich? Sollen auch wir umkehren und alle auf sie hören? Hat er sie etwa mehr als uns auserwählt?" (EvMar, BG 1, p. 17,18–22). Daraufhin bricht Maria in Weinen aus, aber ein Jünger namens Levi verteidigt sie. Was oben bereits zum mangelnden historischen Gehalt solcher Weitererzählungen gesagt wurde, gilt zwar auch hier, hinter der erzählerischen Fiktion werden aber zweifellos reale Rivalitäten um Führungsrollen in der nachösterlichen Gemeinschaft der Jesusnachfolgenden erkennbar. Dass diese nicht zu Gunsten der leitenden Funktion von Frauen in Gemeinden ausgingen, zeigen einerseits bereits die Pastoralbriefe im Neuen Testament. Andererseits wird das aber auch darin deutlich, dass ein Text wie das "Evangelium nach Maria" nur in einer unvollständig erhaltenen koptischen Fassung und zwei griechischen Papyrusfragmenten auf uns gekommen ist. Wie viele solcher Texte für immer verloren sind, kann man nur ahnen.
Die neutestamentlichen Erzählungen über Jesus haben bereits in frühchristlicher Zeit vor allem mit ihren biographischen Lücken dazu eingeladen, sie in Gestalt neuer Texte weiterzuerzählen und dabei auch Ungereimtheiten zu klären. Diese, nicht in den biblischen Kanon aufgenommenen Texte, bieten zwar keine historisch verwertbaren Informationen, aber sehr wohl theologische Reflexion in narrativer Gestalt. Sie greifen nicht selten auch eine religiöse Praxis und Lehrentwicklungen auf und wirken wiederum auch auf diese zurück.
Die Autorin
Prof. Dr. Ursula Ulrike Kaiser lehrt Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Johanneische Schriften, neutestamentliche Apokryphen und koptisch-gnostische Schriften, Auslegung frühchristlicher Metaphern, Methoden der Exegese.
Dieser Artikel erschien zuerst in "Bibel und Kirche", der Zeitschrift zur Bibel in Forschung und Praxis. Die auflagenstärkste deutschsprachige Fachpublikation zur Heiligen Schrift erscheint viermal im Jahr und informiert über aktuelle Diskussionen. "Bibel und Kirche" ist die Mitgliedszeitschrift der katholischen Bibelwerke in Deutschland, Österreich und der Schweiz.