Macht und Charisma ohne Kontrolle – das System Pilz
"Wir sind übrigens per Du, aber nur zu zweit. Und sonst eben per Sie." Kleine Geheimnisse prägen laut dem Untersuchungsbericht seiner Zeit als Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" den Umgang von Winfried Pilz mit seinen Mitarbeitern, in denen er anscheinend mehr als nur Mitarbeiter sah – zumindest potentiell. Anzeichen für strafbewehrte Missbrauchstaten in der Zeit von 2000 bis 2010 kann die Kölner Rechtsanwältin Bettina Janssen in ihrem Gutachten nicht ausmachen. "Die beschriebenen Grenzverletzungen von Pilz während seiner Präsidentschaft liegen unterhalb der Schwelle der zivilen Strafgesetze", stellt sie fest.
In vier Fällen erkennt sie aber Grenzverletzungen, die nach der Einschätzung Janssens aber als Teil eines Anbahnungsprozesses verstanden werden können. Der Mitarbeiter, der auf Reisen mit Pilz per Du sein sollte, in der Zentrale in Aachen und gegenüber anderen per Sie, taucht als "Person B" in dem Bericht auf. Schon ganz am Anfang seiner Zeit beim Kindermissionswerk sei Pilz mit eigenwilligem Verhalten aufgefallen: "Und da haben wir uns echt betrunken, also unglaublich, und das am Abend des Bewerbungsgespräches"; Person B habe anschließend in der Gästewohnung des Kindermissionswerks geschlafen, im selben Gebäude, in dem auch Pilz seine Dienstwohnung hatte. Auf seiner ersten Dienstreise kam dann das Du – und unangemessen nahe Unterbringung teilweise im selben Hotelzimmer. Wie andere wird auch B zu Saunabesuchen mit Pilz eingeladen, wenn er auch nicht darauf eingeht.
Immer wieder Saunabesuche
Anders als Person A. Nach einem Arbeitswochenende mit Pilz, bei dem es "wenig Zeit für Arbeiten", dafür aber "viel Zeit für Mahlzeiten und Spaziergänge" gab, nahm Pilz den Mann in die Sauna mit: "Seine Nacktheit war mir unangenehm, und meine vor ihm erst recht." Person A beschreibt auch, wie unangenehm ihm die körperliche Nähe war, die Pilz häufig suchte: "Hin und wieder hat er mich am Ende eines Treffens sehr herzlich und fest umarmt. Dabei küsste er mich auch auf die Wange. Mir blieb dabei nur, das zu erdulden, die Luft anzuhalten, um seinen Geruch nach 'alter Mann' und Franzbranntwein nicht ertragen zu müssen. Der Gedanke daran, das Gefühl, seinen Bart in meinem Gesicht zu spüren und sein dicker Bauch, den er gegen meinen Körper presst, rufen bis heute Ekel und Widerwillen in mir vor." Pilz habe ihn auch wiederholt eingeladen, auch in seiner Wohnung Mittagsschlaf zu halten, wenn der Präsident sich selbst zum Schlafen zurückgezogen hat.
In einem dritten Fall ist nur ein gemeinsamer Saunabesuch bei einer Dienstreise bekannt, der letzte Fall, der von Janssen unter die Grenzverletzungen gefasst wird, ist anders als die ersten drei nur aus den Erzählungen von einer weiteren Person bekannt. Nach einer Dienstreise habe sich ein im Hilfswerk noch recht neuer Länderreferent über Pilz beschwert, aber erst nach Ende der Amtszeit des Präsidenten: "Der sagte, Pilz sei schwul. Nur, der gibt es nicht zu. Der sagt das nicht, aber dann kommt der einem näher."
Für das Kindermissionswerk ist das Gutachten in dieser Hinsicht eine Erleichterung: Hinweise auf neue Missbrauchstaten gab es nicht. Zugleich wirft das Gutachten aber auch die Frage auf, wie heute undenkbares Verhalten eines Vorgesetzten über Jahre scheinbar unbemerkt bleiben konnte.
Großzügig und statusbewusst
Neben den direkten Grenzverletzungen schildert die Gutachterin weitere Eigenheiten von Pilz, der als ebenso charismatischer wie statusbewusster Leiter des Hilfswerks geschildert wird. Immer wieder unterstützte er Schützlinge, oft mit Migrationshintergrund, half Mitarbeitenden in finanziellen Schwierigkeiten. "Im Kindermissionswerk waren viele junge Männer, teilweise auch fest angestellt, wo das Muster erkennbar war: Ich helfe jemandem, ich fördere jemanden. Es bleibt die Frage, ob dafür auch eine Gegenleistung verlangt oder erbracht wurde", erzählt eine Person von ihren Erinnerungen an die Zeit von Pilz in Aachen. Auch der Fall, der die Enthüllungen über Pilz ins Rollen brachte, dreht sich um einen Schützling des damaligen Jugendseelsorgers.
Pilz schien die Geschäftsstelle des Kindermissionswerks insgesamt als seine erweiterte Dienstwohnung verstanden zu haben, die Beschäftigten oft auch als sein Personal: Der Fahrer wurde auch für private Fahrten eingespannt, andere erledigten für ihn Besorgungen und halfen bei der Wäsche. Nach Dienstschluss habe man ihn bisweilen auch im Schlafanzug im Büro angetroffen. "Er ging über alles hinweg: Kühlschrank. Sachen von den Kollegen. Das interessierte ihn nicht. Wenn er meinte, er muss abends sich Essen holen, dann ging er aus seiner Wohnung runter und bediente sich", berichtet eine befragte Person. Immer wieder habe er Besprechungen von den Büros und Besprechungsräumen in seine Dienstwohnung verlegt. Bei Essen aus dienstlichen Anlässen allein mit anderen war er großzügig und lud ein, gern auch zu Alkohol in Mengen, waren mehrere dabei, ging die Rechnung meist auf die Institution – aber auch dabei pflegte er viel zu trinken. Sein persönliches Erscheinungsbild wird als nachlässig beschrieben – nicht nur dann, wenn man ihn nach Dienstschluss im Büro angetroffen hat: "Ein Bischof, der zu Besuch kam, habe nachher gesagt: 'Wenn ich ihn auf der Straße getroffen hätte, hätte ich ihm eine Mark gegeben.'"
Zugleich genoss Pilz unter seinen Mitarbeitern wie in der Kirche insgesamt größtes Ansehen. Der charismatische Priester trat selbstbewusst gegenüber den Partnern des Hilfswerks auf (und genoss es, persönlich Schecks auszustellen, eine Praxis, die das Hilfswerk mittlerweile nicht mehr betreibt), leutselig gegenüber der Belegschaft – nur mit Frauen hatte er es nicht so: Eine ehemalige Mitarbeiterin berichtet, dass er ein Problem damit zu haben schien, mit Frauen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Während er Männer begeistert förderte, konnten sich Ideen von Frauen beim Präsidenten nur mit viel Überzeugungsarbeit durchsetzen.
Fragen bleiben offen
Das Pilz-Gutachten zeichnet ein Psychogramm eines eigensinnigen, von sich selbst überzeugten, zugleich eitlen und kumpelhaften Klerikers im Schnittpunkt mehrerer Machtquellen: Macht durch Charisma, Macht qua Weihe und Macht durch sein Amt als Sternsinger-Präsident. "Je größer die Macht einer Person, desto größer die Option – und die Vertuschung einer Aufdeckung innerhalb der Institution", heißt es dazu im Gutachten.
Dass diese Machtfülle weder bemerkt noch kontrolliert wurde, gehört zu den größten Kritikpunkten Janssens: Nicht vom Erzbistum Köln, wo Pilz als Priester inkardiniert war, noch von den zuständigen Aufsichtsgremien. Dazu kommt fehlendes Gehör für Mitarbeitende. Instruktiv ist ein Auszug aus einem Organisationshandbuch des Kindermissionswerks aus der Zeit von Pilz' Präsidentschaft. Während der Geschäftsführer des Hilfswerks für Finanzen, Personal, Organisation und IT zuständig war, lagen beim Präsidenten allein die Zuständigkeiten für "Aufarbeitung von Fehlleistungen und Beschwerden", zugleich war er Ansprechpartner für "persönliche Fragen der Mitarbeitenden und Partner" und hatte die nebulös formulierte Aufgabe, "bestimmte Leitungs- und Korrespondenzvorgänge" zu koordinieren.
Derartige organisatorische Missstände dürften mittlerweile größtenteils der Vergangenheit angehören. Teils aufgrund gesetzlicher Vorgaben wie dem vor kurzem in Kraft getretenen Hinweisgeberschutzgesetz, teils aufgrund interner Reformen von Arbeitsweisen und Strukturen, die kirchliche Institutionen wie das Kindermissionswerk auf der Grundlage der wachsenden Aufmerksamkeit für die systemische Begünstigung von Missbrauch und Grenzverletzungen eingeführt haben.
Der Auftrag der Gutachterin war die Untersuchung des Zeitraums von zehn Jahren, in denen Pilz an der Spitze des Kindermissionswerks stand, vergeben wurde er durch das Kindermissionswerk selbst. Das führt auch dazu, dass nur die Unterlagen und die Kooperation des Hilfswerks uneingeschränkt dafür zur Verfügung stand. Das Erzbistum Köln hat sich gegenüber der Gutachterin nach Anfragen zu Unterlagen auf Datenschutzargumente berufen. Gerade die Frage, wie es überhaupt zur Berufung von Pilz in dieses Amt kommen konnte, nachdem das Erzbistum Köln in Gestalt von Weihbischof Josef Plöger spätestens 1988 erste Hinweise auf Taten von Pilz erhalten hat, kann das Gutachten nicht klären. Kurz darauf, 1989, wurde Pilz aus der Jugendarbeit herausgenommen und als Pfarrer eingesetzt, wo er bis zu seiner Ernennung zum Sternsinger-Präsidenten war. Eine Aufarbeitung dieser Vorgänge, der Entscheidungsstrukturen im Erzbistum Köln und der Deutschen Bischofskonferenz, die den Präsidenten des Kindermissionswerks bestellt, stehen für die Öffentlichkeit noch aus.
Untersuchung und Aufarbeitung zum Fall Pilz im Volltext
- Das Erzbistum Köln hatte in einem öffentlichen Aufruf Ende Juni 2022 darüber informiert, dass sich der 2019 verstorbene Pilz vor seiner Amtszeit beim Kindermissionswerk in den 70er Jahren gegenüber einer schutzbedürftigen Person sexuell missbräuchlich verhalten hat. Der Fall Pilz wurde bereits durch die Missbrauchsstudie des Erzbistums Köln dokumentiert, allerdings anonymisiert.
- Ende Juni 2022 hatte das Erzbistum mögliche weitere Betroffene dazu aufgerufen, sich bei den unabhängigen Beauftragten des Erzbistums zu melden. Das Kindermissionswerk schloss sich dem Aufruf an.
- Im November 2022 hat das Kindermissionswerk eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, um etwaiges sexuell missbräuchliches Verhalten durch Pilz während seiner Amtszeit als Präsident des Kindermissionswerks in den Blick zu nehmen. Start der Untersuchung war im Januar 2023.
- Im August 2023 veröffentlicht das Kindermissionswerk die unabhängige Untersuchung durch Rechtsanwältin und Mediatorin Bettina Janssen.