Studie der Universität Zürich hatte 1.002 Fälle identifiziert

Schweiz: Experte geht von bis zu 15.000 Missbrauchsfällen aus

Veröffentlicht am 15.09.2023 um 11:36 Uhr – Lesedauer: 

Zürich ‐ In der Schweizer Missbrauchsstudie wurden 1.002 Fälle sexuellen Missbrauchs identifiziert. Zugleich hieß es, dass dies nur die "Spitze des Eisbergs" sei. Der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur geht nun tatsächlich von deutlich mehr Fällen aus.

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Der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Stefan Loppacher, geht davon aus, dass die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten deutlich über der Zahl der Fälle liegt, die in der am Dienstag veröffentlichten Missbrauchsstudie für die Kirche in dem Land identifiziert wurden. "Man wird für den Zeitraum der letzten gut 70 Jahre wohl von 10.000 bis 15.000 Fällen ausgehen müssen, die tatsächlich geschehen sind", sagte Loppacher am Donnerstag in einem Interview der Zeitung "Bote der Urschweiz", über das auch das Internetportal kath.ch berichtete.

Die vom Historischen Seminar der Universität Zürich durchgeführte Studie hatte für die katholische Kirche der Schweiz für die Zeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts 1.002 Fälle sexuellen Missbrauchs, 510 Beschuldigte und 921 Betroffene identifiziert. Bei der Vorstellung der Untersuchung hatten die beteiligten Historiker mit Blick auf die identifizierten Fälle zugleich erklärt, dass es sich bei den festgestellten Taten "zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs" handele. Zahlreiche Archive, in denen weitere Fälle von Missbrauch dokumentiert sein dürften, hätten noch nicht ausgewertet werden können, darunter Archive von Ordensgemeinschaften, Dokumente diözesaner Gremien und die Archivbestände katholischer Schulen, Internate und Heime sowie staatliche Archive. Zudem könne für zwei Schweizer Diözesen die Vernichtung von Akten belegt werden. Auch lasse sich beweisen, dass nicht alle Meldungen konsequent schriftlich festgehalten und archiviert worden seien.

"Abstruse Moralvorstellungen"

Loppacher, der auch Geschäftsführer des Fachgremiums "Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld" der Schweizer Bischofskonferenz ist, vertrat in dem Interview die These, dass es auch am kirchlichen Strafrecht liege, dass sexueller Missbrauch lange ungeahndet geblieben sei. Das Strafrecht habe zu einer Vermischung von Moral und Recht geführt. Mit einer Frau zu schlafen, sei als "richtiger Zölibatsbruch" als schlimmer bewertet worden als der sexuelle Missbrauch von Jungen durch Priester. Die Frau werde aus biblischen und kultischen Reinheitsvorstellungen heraus als weniger rein gesehen. Bis heute präge dies die Sexualmoral und das Frauenbild der Kirche. "Abstruse Moralvorstellungen haben hier einen direkten Einfluss auf die Verharmlosung eines schweren Verbrechens", sagte Loppacher.

Das auf moralischen und theologischen Überzeugungen basierende kirchliche Strafrecht sei über Jahrhunderte ein reines Disziplinarrecht gewesen, so der Experte weiter: "Es ging darum, die Täter zu ihrem eigenen Heil vor sich selbst zu schützen und zur Umkehr zu bewegen." Unrecht zu benennen und dieses wieder gut zu machen, sei nicht Teil davon. "Das tönt natürlich so naiv, dass einem fast schwindlig wird", sagte der Kirchenrechtler. Die Kirchenverantwortlichen seien es zudem gewohnt gewesen, sich über den Staat zu stellen. "Die katholische Kirche kennt keine Fehlerkultur", betonte Loppacher. (stz)