Aufarbeitung sei persönliche und gemeinschaftliche Aufgabe

Pfarrer: Kirche muss Missbrauch in Identität integrieren

Veröffentlicht am 16.09.2023 um 00:01 Uhr – Von Clara Engelien (KNA) – Lesedauer: 

Rhede ‐ Wie kann Aufarbeitung von Missbrauch in einer Gemeinde gelingen? Indem Betroffene und Menschen der Kirche zusammenwirken, sagt der Rhedener Pfarrer Thorsten Schmölzing im Interview. Er legt aber auch Wert auf eine genaue Aufgabenteilung.

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In der Gemeinde Sankt Gudula, die Pfarrer Thorsten Schmölzing (51) in der münsterländischen Kleinstadt Rhede leitet, hat vor mehreren Jahrzehnten ein Priester als pädophiler Serientäter etliche Kinder und Jugendliche missbraucht. Wie Aufarbeitung gelingen kann, erzählt der Pfarrer im Interview.

Frage: Herr Schmölzing, seit fünf Jahren betreiben Sie intensiv Aufarbeitung. Warum?

Schmölzing: Die Nachrichten über das Ausmaß des Missbrauchs in der Kirche und der Umgang der Kirchenleitung in den vergangenen Jahrzehnten bringt viele Menschen in eine innere Spannung. Als katholische Kirche sind wir in der Situation, den Tatbestand des Kindesmissbrauchs in unsere Identität integrieren zu müssen. Das ist eine persönliche Aufgabe, aber auch eine gemeinschaftliche. Ähnlich wie die deutsche Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg stehen wir vor der Herausforderung, dem Kindesmissbrauch einen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis zu geben.

Frage: Wie sind Sie dabei vorgegangen?

Schmölzing: Wichtig war für uns ein Infoabend zu Beginn des Aufarbeitungsprozesses, zu dem auch ein Bistumsvertreter kam, um die Taten öffentlich anzuerkennen. Unmittelbar danach haben wir eine AG gegründet, in der wir uns alle vier bis sechs Wochen zu siebt treffen. Wir haben den Anspruch, ein Mal im Jahr ein öffentliches Angebot zu machen.

Frage: Immer wieder sind Gemeinden gespalten in ihren Sichtweisen. Wie gehen Sie damit um?

Schmölzing: Bei einer Ausstellung in der Fußgängerzone zum Beispiel haben wir darauf geachtet, dass immer eine betroffene Person und ein Kirchenvertreter anwesend waren, um die unterschiedlichen Sichtweisen anzubieten und auch um verschiedenste Reaktionen der Passanten auffangen zu können. Unsere Erfahrung ist: Aufarbeitung geht gut, wenn Betroffene und Menschen der Kirche zusammenwirken. Dass sie dies überhaupt möchten, ist natürlich Voraussetzung.

Schatten eines Kreuzes
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

Vor mehreren Jahrzehnten hat ein Priester als pädophiler Serientäter etliche Kinder und Jugendliche in Rhede missbraucht.

Frage: Wie genau beziehen Sie Betroffene mit ein?

Schmölzing: In unserer AG sind drei Betroffene dabei. Gemeinsam beraten und entscheiden wir, was wir tun. Dass Betroffene bereit sind, mit Kirchenvertretern zusammenzuarbeiten, finde ich – nach dem, was sie im kirchlichen Kontext erlitten haben – nicht selbstverständlich. Ihre Beteiligung bereichert unseren Prozess der Aufarbeitung, und ich bin ihnen sehr dankbar dafür.

Frage: Wie haben die Menschen in Ihrer Gemeinde auf den Aufarbeitungsprozess reagiert?

Schmölzing: Viele finden es gut, dass wir einen transparenten und offensiven Umgang suchen. Wir haben aber auch gehört: "Das ist doch schon so lang her" oder "Tote soll man ruhen lassen und da nicht mehr drüber sprechen" bis hin zu Unterstellungen, Betroffene wollten nur Geld. Solche Bemerkungen deuten wir als Ausdruck innerer Abwehr. Wir nehmen sie wahr und greifen sie auf, um weiter mit den Personen im Gespräch zu bleiben, die so etwas äußern.

Frage: Was braucht es Ihrer Erfahrung nach, damit Aufarbeitung gelingen kann?

Schmölzing: Wichtig ist Wertschätzung gegenüber den verschiedenen Blickwinkeln in unserer Gemeinde sowie absolute Transparenz. Ich treffe keine Absprachen etwa mit der Bistumsleitung, von denen die Mitglieder unserer AG Missbrauch nichts erfahren. Die Zusammenarbeit kann nur funktionieren, wenn sie ehrlich und auf Augenhöhe geschieht. Und: Klare Abgrenzung zu den Aufgaben anderer Instanzen.

„Die Aufklärung über Taten ist nicht unsere Aufgabe, sondern die des Bistums, einer Staatsanwaltschaft oder von Forschungsteams.“

—  Zitat: Thorsten Schmölzing

Frage: Was meinen Sie damit?

Schmölzing: Die Aufklärung über Taten ist nicht unsere Aufgabe, sondern die des Bistums, einer Staatsanwaltschaft oder von Forschungsteams. Auch die Frage nach Entschädigung liegt nicht bei uns, sondern bei der Diözese. Unsere Aufgabe sehen wir darin, auf der Beziehungsebene Aufarbeitung anzubieten.

Frage: Welche konkreten Hinweise können Sie Gemeinden geben, die sich an die Aufarbeitung von Missbrauch begeben möchten?

Schmölzing: Vor allem lohnt sich ein langer Atem. Aufarbeitung geschieht in vielen kleinen Schritten, Menschen brauchen immer wieder eine Anregung für die Auseinandersetzung. Bei unseren öffentlichen Veranstaltungen ist zentral: Die Personen, die für das Thema Kindesmissbrauch ansprechbar sind, zeigen sich. Dadurch können andere auf sie zugehen, wenn es für sie hilfreich und an der Zeit ist.

Von Clara Engelien (KNA)