Timmerevers zu geistlichem Missbrauch: Brauchen Sensibilisierung aller
Zum ersten Mal haben die deutschen Bischöfe bei ihrer Herbstvollversammlung eine umfangreiche Arbeitshilfe zum Thema geistlicher Missbrauch vorgelegt. Der Bischof von Dresden-Meißen, Heinrich Timmerevers, hat die Arbeitshilfe federführend ausgearbeitet. Im katholisch.de-Interview spricht er darüber, warum die Arbeit an dem Dokument mühsam war und aus welchem kirchlichen Bereich ihm besonders viele Fälle bekannt sind.
Frage: Herr Bischof, das Thema sexueller Missbrauch beschäftigt die katholische Kirche seit über zehn Jahren intensiv. Warum steht die Kirche beim Thema geistlicher Missbrauch noch so weit am Anfang?
Timmerevers: Die Frage des geistlichen Missbrauchs ist erst in der Folge der Beschäftigung mit sexuellem Missbrauch aufgetaucht. Wir wurden in der Kommission "Geistliche Gemeinschaften und kirchliche Bewegungen" der Deutschen Bischofskonferenz ab 2012 zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert und haben im Anschluss verschiedene Symposien veranstaltet. Als Konsequenz daraus haben wir viel Recherche investiert und fachkundige Menschen hinzugezogen, um zu verstehen, was da geschieht. Parallel dazu gab es nach 2012 aus den Geistlichen Gemeinschaften erste Meldungen von Betroffenen. So ist seither alles Schritt für Schritt in die Gänge gekommen. Auch die Erstellung der Arbeitshilfe war mühsam, weil immer wieder neue Aspekte zu berücksichtigen waren. Wir müssen die Situation in Pfarreien, in Geistlichen Gemeinschaften und in Orden zusammenzubringen, die ja auch unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche haben. Deswegen hat das einige Zeit gedauert.
Frage: Was wollen Sie mit der Arbeitshilfe konkret erreichen?
Timmerevers: Wir wollen erstmal den Betroffenen ermöglichen, das, was sie erlebt haben, zu verstehen, aufzuarbeiten und einen Weg zum Umgang damit zu finden. Ihr Leben bis in den Alltag hinein ist oft genauso wie das von Betroffenen sexualisierter Gewalt gezeichnet. Auch ihr persönlicher Glaube an Gott ist teilweise total zerstört. Als Kirche tragen wir Mitverantwortung für Betroffene. Auf der anderen Seite haben wir die Aufgabe, die vielen Seelsorgerinnen und Seelsorger dafür zu sensibilisieren, in welcher Haltung wir Seelsorge betreiben wollen. Auch in den Geistlichen Gemeinschaften haben wir Leitungen, die eine Schulung brauchen, wie sie geistlich leiten und dabei auch das Recht auch spirituelle Selbstbestimmung respektieren. Wie sie den Menschen helfen, zu wirklich freien Entscheidungen zu finden und sie in die Freiheit zu führen. Das sind ganz unterschiedliche Aufgaben, die wir nun anstoßen müssen.
Geistlicher Missbrauch: Das steht in der Arbeitshilfe der Bischöfe
Beim Umgang mit geistlichem Missbrauch stehe die Kirche erst am Anfang von Aufklärung und Aufarbeitung, betont Bischof Heinrich Timmerevers. Bei der Herbstvollversammlung haben die Bischöfe nun eine umfangreiche Arbeitshilfe zu dem Thema vorgelegt – die schon bald überarbeitet werden könnte.
Frage: Wo liegt denn die besondere Schwere des geistlichen Missbrauchs im Vergleich zu sexuellem Missbrauch?
Timmerevers: Ich kann das schwer vergleichen. Jeder Missbrauch geht in die Mitte einer Person und zerstört alles. Beim geistlichen Missbrauch spielt die Gottesbeziehung eine besondere Rolle, weil der Gottesglaube zerstört werden kann. Aber man kann beide Formen nicht gegeneinander aufwiegen.
Frage: Aus welchem kirchlichen Umfeld sind Ihnen besonders Fälle von geistlichem Missbrauch bekannt?
Timmerevers: Bei den neuen Geistlichen Gemeinschaften kann man sicherlich feststellen, dass es solche Fälle gab und gibt. Auch in Ordensgemeinschaften. Ob es in Frauengemeinschaften häufiger auftritt als in Männergemeinschafen ist fraglich. Und ich nehme wahr, dass das in unseren Pfarreien auch durch Priester geschieht.
Frage: Hat man diese neuen geistlichen Gemeinschaften zu lange unbeaufsichtigt gelassen, weil sie erfolgreich evangelisiert haben?
Timmerevers: Bei den neuen Geistlichen Gemeinschaften stellt sich immer die Frage, inwieweit kirchliche Kontrolle überhaupt möglich ist. Verantwortungsstrukturen sind nicht immer geklärt oder bewusst, mitunter gibt es Geistliche Gemeinschaften, die nicht an diözesane, sondern an römische Aufsicht gebunden sind. Hier braucht es einen genauen Blick auf Statuten, kirchliche Anerkennung und auf eventuelle erteilte seelsorgliche Aufträge einer Diözese. Es gibt auch Initiativen, die zwar einen "kirchlichen Charakter" ausstrahlen, aber überhaupt keine Anerkennung und entsprechend keine Aufsicht haben.
Wenn diese Gemeinschaften sich nicht in kirchlichen Räumen treffen und beispielsweise eine Stadthalle anmieten, um dort ihre Treffen abzuhalten, dann sind zunächst einmal der Diözesanbischof oder die Verantwortlichen vor Ort nicht involviert. Sie haben ihre eigenen Strukturen und keine Einbindung in diözesane Gefüge. Das kann man dann nicht immer im Blick haben. Aber wenn die ersten Meldungen von irritierenden Aktionen, Reden oder Predigten eingehen oder auch in der Begleitung von einzelnen Personen Ungereimtheiten und Fragen auftreten, dann müssen die dafür zuständigen kirchlichen Autoritäten auf jeden Fall aufmerksam und aktiv werden.
Frage: Gerade in Frauenklöstern wird bei geistlichem Missbrauch häufig geklagt, dass hier Priester missbrauchen, von denen sie in gewisser Weise spirituell abhängig sind. Wie wollen Sie das Thema angehen?
Timmerevers: In einem Frauenkloster gibt es immer eine Ordensoberin. In erster Linie muss diese Aufgabe in jedem Kloster selbst ernst- und wahrgenommen werden. Wenn es um einen Priester geht, hat die Oberin das Recht und die Pflicht, einzuschreiten und den Diözesanbischof darüber in Kenntnis zu setzen. Nur auf diesem Weg kann der Bischof den betreffenden Priester mit den Vorwürfen konfrontieren und ihn möglicherweise auch aus dem Dienst herausnehmen.
Frage: Sie schreiben in der Arbeitshilfe, dass Sie beim Thema geistlicher Missbrauch noch ganz am Anfang stehen. Was muss sich aus Ihrer Sicht ändern, damit die Kirche hier vorangeht und Schritte nach vorne macht?
Timmerevers: Zunächst braucht es kompetente Ansprechpartner. Dann muss ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden, dass Betroffene sich auch wirklich an diese Personen wenden, um Unterstützung zu erhalten. Das kann etwa durch qualifizierte geistliche Begleitung geschehen, aber auch durch die Möglichkeit, fachkundige juristische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das andere ist eine Sensibilisierung aller, die in geistlicher Begleitung unterwegs sind. Aber auch die Geistlichen Gemeinschaften selbst müssen aus meiner Sicht umsichtiger werden in der Form, wie sie leiten und begleiten.
Frage: Bis 2026 soll die Arbeitshilfe evaluiert werden. Was wäre Ihr Wunsch, was sollte bis dahin erreicht werden?
Timmerevers: Ich wünsche mir, dass die Ansprechpersonen in den einzelnen Bistümern bis dahin gefunden und vernetzt sind. Wir müssen mit ihnen das, was jetzt neu ankommt, gemeinsam auswerten. Das Zweite ist, das Thema weiter in die Breite zu tragen und ins Bewusstsein zu rücken. Das ist im Grunde das, was ich jetzt vor mir habe. Wahrscheinlich wird sich das eine oder andere bislang Erkannte erhärten, aber ich bin jetzt erstmal sehr gespannt, was kommt. Ich bin kein Prophet, sondern ein nüchterner Beobachter.