Gewaltenteilung und ordentliche Strafverfahren

Kirchenrichter fordert mehr Rechtsstaatlichkeit in der Kirchenjustiz

Veröffentlicht am 17.10.2023 um 15:46 Uhr – Lesedauer: 

Sitten ‐ Jahrzehnte nach seinen Taten wurde ein Schweizer Priester strafweise aus dem Klerikerstand entlassen. Der Richter in dem Fall steht zu seinem Urteil. Wie es zustande kam, sieht er aber kritisch – und kündigt persönliche Konsequenzen an.

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Der Schweizer Kirchenrichter Nicolas Betticher fordert die Kirche auf, sich ein Vorbild am Rechtsstaat zu nehmen. Im Interview mit "kath.ch" kündigte der Offizial des interdiözesanen Schweizer Kirchengerichts am Dienstag an, aufgrund grundsätzlicher Bedenken künftig nicht mehr als Richter bei Verfahren auf dem Verwaltungsweg zu fungieren. Der Offizial äußerte sich angesichts des Falls eines Missbrauchstäters, der in einem kirchlichen Strafprozess unter der Leitung Bettichers aus dem Klerikerstand entlassen wurde. Das Verfahren wurde in außerordentlicher Form geführt, das heißt rein auf dem Verwaltungsweg auf der Grundlage der Aussage des Beschuldigten und von Akten. "Ich sehe dies persönlich sehr kritisch und plädiere immer für die Durchführung eines ordentlichen Verfahrens", so Betticher. "Es ist aus offensichtlichen Gründen höchst problematisch, wenn man nur eine Seite – und zwar die des Beschuldigten – hört. In diesem konkreten Fall war die Sachlage so eindeutig, dass wir trotzdem zur moralischen Gewissheit gelangten, dass der Beklagte schuldig war." Dennoch werde er solche Verfahren nicht mehr leiten: "Dieser Fall wird der einzige bleiben."

Der Kirchenrechtler sieht ein Risiko der Einseitigkeit und meldet grundsätzliche Bedenken an: "Die Sachlage ist nur selten so eindeutig wie in diesem Fall. Und es ist nicht in Ordnung, dass man Opfer und Zeugen nicht anhört. Das ist eine Abkürzung, die tendenziell zu Lasten der Opfer geht." Deshalb plädiere er dafür, bei jedem Missbrauchsfall ein ordentliches Verfahren durchzuführen, wie es auch in der staatlichen Justiz gemacht wird. Der Rechtsstaat könne der Kirche als Vorbild dienen mit Blick auf die Gewaltenteilung. "In einem ausserordentlichen Verfahren kommt die zu grosse Macht, die in der Kirche bei den Bischöfen liegt, deutlich zum Tragen", so Betticher weiter. Auf die Gefahr von Parteilichkeit sei eine klare Gewaltenteilung die Antwort.

Urteil mittlerweile rechtskräftig

In der Sache ging es um einen Priester des Bistums Sitten, der in den 1980er Jahren minderjährige Geschwister missbraucht hatte. Erst 2019 wurde eine kanonische Voruntersuchung eingeleitet. Auf Antrag von Bischof Jean-Marie Lovey wurde die Verjährung durch das Dikasterium für die Glaubenslehre aufgehoben, so dass der Fall verhandelt werden konnte. Lovey beauftragte Betticher und zwei weitere kirchliche Richter mit dem Verfahren. Das Urteil erging Anfang 2022 und wurde in diesem Oktober rechtskräftig, nachdem der Verurteilte zweimal Rechtsmittel in Rom eingelegt hatte.

Die Kirche hat ein eigenes Straf- und Prozessrecht, mit dem sie kirchliche Straftaten ahndet. Kirchliche Strafverfahren ersetzen keine staatlichen Verfahren, wo es um Taten geht, die auch nach staatlichem Recht strafbar sind. Neben Delikten wie Missbrauch und Veruntreuung kennt das kirchliche Strafrecht, das 2021 durch Papst Franziskus umfassend reformiert wurde, auch kirchenspezifische Delikte wie Straftaten gegen die Sakramente. Einige besonders schwere Delikte wie der sexuelle Missbrauch Minderjähriger sind dem Glaubensdikasterium als Gerichtsbehörde zur Entscheidung vorbehalten, das Dikasterium kann aber wie in diesem Fall Bischöfe mit der Durchführung des Verfahrens beauftragen. Kirchenrechtler und Betroffene fordern seit Jahren, die Rechtsstellung von Geschädigten in kirchlichen Strafprozessen zu verbessern. (fxn)