Erfurter Dogmatikerin über die Versuchung einfacher Antworten

Knop: Relativismus ist heute nicht das Problem in der Kirche

Veröffentlicht am 10.11.2023 um 00:01 Uhr – Von Felix Neumann – Lesedauer: 

Erfurt ‐ Wie viel Sicherheit braucht es im Glauben? Konservative Franziskus-Kritiker fordern immer wieder Klarheit in der Lehre. Die Erfurter Dogmatikerin Julia Knop sieht keine Gefahr einer "Diktatur des Relativismus" – viel gefährlicher sei die Versuchung vermeintlich einfacher Lösungen.

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Schon vor Jahren klagte Kardinal Gerhard Ludwig Müller über eine "ausbreitende Verwirrung in der Lehre des Glaubens". Nach der Familiensynode und vor der Weltsynode haben Kardinäle von Papst Franziskus klare Antworten verlangt. Damals sah Kardinal Raymond Burke im nachsynodalen Schreiben "Amoris laetitia" eine "sehr schädliche Verwirrung", jetzt klagen die Dubia-Autoren, zu denen wieder Burke gehört, dass der Papst nicht klar mit Ja und Nein, sondern mit differenzierten Antworten auf die Anfragen reagiert hat. Für den Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping ist das "lehrmäßige Unklarheit". Die Klage über Verwirrung und Unklarheit gehört zum Standardrepertoire konservativer Katholiken. Im Interview mit katholisch.de erklärt die Erfurter Dogmatikerin Julia Knop, warum Verwirrung eine wichtige Kategorie in der Kirche ist – und warum Papst Franziskus auf mehrdeutige Signale setzt.

Frage: Frau Professorin Knop, warum sind Klarheit und Verwirrung so wichtige Kategorien in konservativen Kreisen?

Knop: Dieses Motiv kennt man auch aus kirchlichen Lehrschreiben: dass die Gläubigen nicht verwirrt werden dürften, zum Beispiel über den Unterschied zwischen Klerikern und Laien oder zwischen Männern und Frauen.

Wer befürchtet, dass die Gläubigen durch Reformdebatten verwirrt werden, sieht die Aufgabe des Lehramts vor allem darin, Eindeutigkeit zu stiften und das "depositum fidei", das Glaubensgut, "unversehrt" durch die Zeiten zu tragen. Glaube ist in diesem Verständnis Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes, den die Bischöfe und der Papst sicher erkennen und in Lehrsätzen vortragen. Das Lehramt wird dabei wie eine Vermittlungsinstanz zwischen Gott und der Welt konzipiert. Als Instanz mit einem privilegierten Zugang zur Wahrheit und entsprechender Verantwortung gegenüber den einfachen Gläubigen, die erst über Gott belehrt werden müssten.

Frage: Ist das noch zeitgemäß?

Knop: Es hat zumindest lange funktioniert und ist in den Köpfen mancher besorgter Kardinäle offensichtlich noch wirksam. Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat aber ein Paradigmenwechsel eingesetzt. Wir verstehen heute das Verhältnis von Wahrheit und Sprache, Offenbarung und Dogma, Lehramt und Glauben anders. Wahrheit lässt sich nicht in Sätze bannen. Sie liegt in der Beziehung zu Gott. Und diese Beziehung, also der Glaube, ist unmittelbar und braucht keine lehramtliche Vermittlung.

Frage: Aber muss das Lehramt nicht über den Glauben wachen, damit nicht alles als gleich gültig erscheint?

Knop: Papst Benedikt XVI. hatte die angebliche "Diktatur des Relativismus" zuerst konstruiert und dann bekämpft. Meines Erachtens stehen wir in der Kirche heute vor einer umgekehrten Herausforderung: Nicht eine "Diktatur des Relativismus" ist das Problem, sondern ein "Diktat der Wahrheit". Gerade in den Religionen ist die Versuchung groß, vermeintlich eindeutige Positionen auch dann noch als wahr zu behaupten, wenn sie nicht mehr einleuchten oder die Wirklichkeit längst über sie hinweggegangen ist. Aber eine "Wahrheit", die sich nicht im Diskurs und im Leben bewährt, sondern autoritativ durchgesetzt werden muss, ist keine Heilszusage, sondern eine Kampfansage. Auch dann, wenn es um Gott geht.

Zur Person

Julia Knop ist seit 2017 Professorin für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt. Zu ihren Forschungsinteressen gehört die (Ir-)Relevanz und (In-)Plausibilität der Gottesfrage in der Gegenwart. Sie ist zugewähltes Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Beim Synodalen Weg war sie Teil der Synodalversammlung und des Synodalforums Macht und Gewaltenteilung in der Kirche.

Frage: Als Dogmatikerin sehen Sie es also nicht als Ihre Aufgabe an, Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen?

Knop: Nein, ich bin ja wissenschaftliche Theologin. Mein Job ist es, Fragen zu stellen. Ich setze mich mit kirchlichen Lehren auseinander. Mich interessiert, wie sie entstanden sind, welche Kontroversen es im Hintergrund gab, was positiv ausgedrückt und was negativ abgewiesen werden sollte. Ich frage danach, was Glaubensüberzeugungen vergangener Zeiten heute bedeuten können und welche Entwicklungen und Korrekturen überkommener kirchlicher Positionen aktuell anstehen.

Theologie hat immer auch eine ideologiekritische Aufgabe. In Bezug auf unser Thema, die "Verwirrung" der Gläubigen, finde ich es wichtig, das Konzept zu hinterfragen, das solche Befürchtungen nährt: Die kirchliche Ständegesellschaft, die nicht nur das kirchliche Organigramm prägt, sondern auch die Vorstellung, dass die Bischöfe und der Papst besser über Gott und die Welt Bescheid wüssten und das Leben der Gläubigen besser beurteilen könnten als diese selbst.

Frage: Die Welt ist auch ohne eine solche systematische Theologie schon kompliziert. Können Sie nachvollziehen, wenn Leute wenigstens noch von der Kirche einfache, klare Wahrheiten erwarten?

Knop: Der Wunsch ist nachvollziehbar. Aber die Wirklichkeit ist nun einmal komplex. Der Glaube auch. Man wird dem mit einfachen Antworten nicht gerecht. Die Kirche ist keine Enklave der Eindeutigkeit und sie sollte das nicht von sich behaupten, als gäbe es "draußen" nur Chaos und Relativismus, aber "drinnen" eine heile Welt voller Glanz und Wahrheit.

Es gibt überall Gut und Böse. Es gibt Ungleichzeitigkeiten und Kontroversen, beglückende Vielfalt und beunruhigende Polarisierungen. Wie könnte es in einer Weltkirche anders sein? Damit müssen wir umgehen. Zentral zu dekretieren, was wahr und was falsch ist, führt nicht weiter, erst recht nicht der Versuch, das machtvoll durchzusetzen. Man muss die Wahrheit nicht vor der Wirklichkeit schützen und Gott nicht vor dem Leben der Menschen.

Frage: Traditionell hat der Papst aber diese Rolle, Eindeutigkeit zu stiften – und jetzt kommt der Papst selbst und wirbelt alles durcheinander. Verändert sich da gerade auch das Papstamt?

Knop: Papst Franziskus hat einiges in Bewegung gebracht, auch dadurch, dass er sich über die Forderung nach eindeutigen Vorgaben hinwegsetzt und uneindeutig redet und handelt. Daran stoßen sich alle Seiten: Die, die sich klare Urteile nach alter Façon wünschen, und die, die Reformen anstreben, diese aber auch von oben legitimiert sehen wollen. Wir erleben gerade eine Art Kontinentalverschiebung in der Vorstellung, wie eine globale Kirche organisiert werden sollte und wie ein Lehramt der Zukunft aussehen könnte.

Frage: Durch die Dogmatisierung von päpstlicher Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsprimat hat das Erste Vatikanische Konzil Kontinentalverschiebungen aber deutliche Grenzen aufgezeigt. Kann man hinter diese Dogmen überhaupt zurück?

Knop: In der römisch-katholischen Binnenlogik nicht. Aber die Geschichte geht ja weiter. Papst Franziskus macht manches einfach anders. Er folgt nicht dem autoritativen Muster lehramtlichen Sprechens des 19. Jahrhunderts, sondern redet in Interviews, bei fliegenden Pressekonferenzen, in Fußnoten, in persönlichen Briefen.

Immer wieder sagt er: "Die Realität ist wichtiger als die Idee". Er hat kürzlich die Aufgabe des Glaubenspräfekten neu bestimmt: Das Dikasterium für die Glaubenslehre soll künftig nicht mehr primär die Lehre einschärfen, sondern dazu beitragen, dass sich die Kirche in der Interpretation der Offenbarung weiterentwickelt. Sie soll also nicht verbieten und einengen, sondern ermöglichen und Horizonte weiten.

Strukturelle und lehrmäßige Konsequenzen dieses Programms sind bisher allerdings die Ausnahme. Franziskus sendet also mehrdeutige Signale. Er setzt Dynamiken in Gang, deren Wirkung noch nicht absehbar ist.

Frage: Und wie kommt man dann heute zu einem Konsens darüber, was katholisch ist?

Knop: Das wird nur diskursiv und partizipativ gehen. Man muss den Streit beherzt und intelligent führen. Was wahr, also sinnstiftend und lebensförderlich, ist, muss sich in der Auseinandersetzung und in der Realität bewähren. Und was verbindlich gelten soll, braucht das Commitment derer, die sich daran binden sollen. Das geht nicht mehr über autoritativ vorgetragene Lehren oder eindeutige Sätze. "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" sagt im Johannes-Evangelium bezeichnender Weise ja nicht Petrus, der spätere Repräsentant der Institution Kirche, sondern Jesus. Denn Wahrheit ist im Christentum keine Theorie und keine Regel. Wahrheit meint eine Beziehung. Eine, die Leben und Hoffnung schenkt.

Von Felix Neumann