O Kreuz - einzige Hoffnung!
In seiner Novelle "Die Schächer ohne den Herrn" geht Reinhold Schneider der Frage nach: Was wäre, wenn uns der Blick auf den Gekreuzigten genommen würde? Die Erzählung führt in das Jahr 1566. In Flandern herrschte Aufruhr. Mit einem unerklärlichen Hass wandten sich die aufgewühlten Volksmassen gegen die herrlichen alten Kirchen im Land, die geschändet und ausgeraubt wurden. Heiliges schien über Nacht unbedeutsam zu werden.
Eines Tages vergriffen sich die Aufrührer an einer mächtigen alten Kreuzigungsgruppe. Sie stürzten das mittlere Kreuz um, während sie die Kreuze der beiden Schächer stehenließen. In ihnen erkannten sie wohl das Abbild ihres eigenen Wesens wieder. Für Reinhold Schneider wird das zum Bild einer Dramatik, die das Leben vieler Menschen heute bestimmt. "Eine furchtbare Lücke klafft zwischen beiden Kreuzen. Der Mittler war entrissen, die Mitte zerstört", so schreibt er.
In die Leere zu schauen im Schrei um Hilfe, ist eine große Not unserer Zeit. Wo das Kreuz nicht mehr im Blick ist, schauen Menschen auch weg, wenn es um den Menschen geht. Das Leben wird im wahren Sinn des Wortes "flach".
Das Kreuz sehen wir in den unterschiedlichen Bildern der Medien: Menschen, die unter Krieg und Gewalt zu leiden haben. Vom Kreuz hören wir, wenn uns die Hiobsbotschaft von Krankheit und Tod in der Familie oder im Freundeskreis erreicht. Wer ein Kreuz zu tragen hat, wird stumm, braucht Weggefährten, Menschen wie Simon von Cyrene (Mk 15,21), die aushalten an der Seite derer, die mit ihren Kräften am Ende sind.
Wo Pläne und Hoffnungen im Leben durchkreuzt werden, die Kraft am Ende ist, da beginnt der Anstoß des Evangeliums: "Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig" (Mt 10,38), mit diesen Worten sagt uns Jesus, dass unser Kreuz zu seinem Kreuz gehört.
Früher war es allseits üblich, dass Menschen ein Sterbekreuz besaßen. Es gehörte zu den persönlichsten Habseligkeiten. Wenn es im Leiden und Sterben in die Hand genommen wurde, war es sichtbarer Ausdruck dafür, dass sich ein Mensch in Not am Gekreuzigten festhalten kann. Solange wir das Kreuz ansehen können, hat alles Hadern und Ringen, alles Klagen, alle Empörung eine Richtung.
Wo in einer Gesellschaft das Kreuz aber nicht mehr vorkommen darf, will man auch das Leid verstecken. Wo man vor Krankheit und Alter die Augen verschließen will, gibt es die Gefahr, den Wert des Lebens auf die sonnigen Tage zu reduzieren, auf Wellness und Genuss. Wo Krankheit und Behinderung ausgeblendet werden und der Euthanasie die Hintertür geöffnet wird, haben Menschen Gott längst aus ihrem Leben verbannt.
Der Karfreitag zeigt uns, wie Jesu Blick gerade auf die Menschen fällt, die ihm in seinem Leiden in die Augen schauen und diesem Blick auf die Realität standhalten können. Das Mitgefühl der Veronika und des Simon von Cyrene beginnt, wo sie dem Blick des Herrn auf seinem Kreuzweg begegnen. Er holt sie in sein Leiden, damit sie seine Perspektive gewinnen. Von der Art, wie wir das Kreuz anschauen, hängt ab, welcher Durchblick uns geschenkt wird. Und ob wir imstande sind, unsere Kreuze in das Osterlicht zu halten.
Auf dem Grabstein meiner Eltern ist ein kurzes Glaubensbekenntnis eingraviert: "O crux ave - spes unica" (O Kreuz - einzige Hoffnung). So ist es: Das Kreuz auf Golgatha ist unsere einzige Hoffnung, die Bedingung der Möglichkeit, dass auch wir durch unsere Kreuze hindurch zur Auferstehung gelangen.