Interview mit dem Generalsekretär des Bonifatiuswerkes

Austen: Wir brauchen dringend pastorale Angebote für Ausgetretene

Veröffentlicht am 04.11.2023 um 12:00 Uhr – Von Steffen Zimmermann – Lesedauer: 

Berlin/Paderborn ‐ Am Sonntag wird in Berlin die diesjährige Diaspora-Aktion des Bonifatiuswerkes eröffnet. Im katholisch.de-Interview spricht dessen Generalsekretär Georg Austen über die schwierige Situation der katholischen Kirche in Deutschland, den Umgang mit Ausgetretenen und die Ergebnisse der Weltsynode.

  • Teilen:

Das Bonifatiuswerk unterstützt Katholiken in Deutschland, Nordeuropa und dem Baltikum, die in der Diaspora, also in einer extremen Minderheitensituation, leben. Am Sonntag wird die diesjährige Diaspora-Aktion des Hilfswerks in Berlin eröffnet, sie steht unter dem Leitwort "Entdecke, wer dich stärkt". Im Interview mit katholisch.de blickt der Generalsekretär des Bonifatiuswerkes, Monsignore Georg Austen, unter anderem auf die herausfordernde Lage der katholischen Kirche in Deutschland, die anhaltend hohen Kirchenaustritte und den Umgang mit Ausgetretenen sowie die internationale Kritik am Synodalen Weg der Kirche in Deutschland.

Frage: Monsignore Austen, die diesjährige Diaspora-Aktion des Bonifatiuswerkes steht unter dem Leitwort "Entdecke, wer dich stärkt". Es soll dazu einladen, sich zu fragen, wer einem Kraft gibt. Wer gibt Ihnen Kraft?

Austen: Zuallererst gibt mir natürlich mein Glaube Kraft. Zu wissen, dass es einen Gott gibt, der mich in allen Höhen und Tiefen meines Lebens trägt – das ist eine wunderbare Kraftquelle, für die ich zutiefst dankbar bin. Kraft geben mir aber auch die Menschen in meinem persönlichen Umfeld, denen ich vertraue und an die ich mich jederzeit mit meinen Fragen und Sorgen wenden kann. Gerade in solch herausfordernden Zeiten wie den unseren ist es wichtig, nicht allein zu sein und sich immer wieder gegenseitig zu stärken und Kraft zu geben, aber auch solidarisch zu handeln.

Frage: Viele Menschen, auch viele Christen, fühlen sich angesichts der derzeitigen Weltlage mit dem weiterhin andauernden Krieg in der Ukraine, der sich zuspitzenden Lage im Nahen Osten und der voranschreitenden Klimakrise mutlos und verzweifelt. Haben Sie einen Rat, wie man angesichts all der schrecklichen Nachrichten Zuversicht tanken kann?

Austen: Die momentane Weltlage kann einen in der Tat entmutigen, und ich verstehe jeden, der angesichts der vielen Kriege und Krisen voller Sorge in die Zukunft blickt. Auch ich bin nicht frei von solchen Sorgen. Als Verteidigungsminister Boris Pistorius am vergangenen Wochenende im ZDF davon gesprochen hat, dass wir kriegstüchtig werden müssen, weil wieder die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte, ist mir das durch Mark und Bein gegangen! Was steht uns noch bevor? Auf was für eine Zukunft steuern wir zu? Das sind Fragen, die auch mich umtreiben. Ein Patentrezept, wie man mit solchen Fragen und Ängsten umgehen sollte, habe ich nicht. Wohl aber die Erfahrung, diese Dinge niemals nur allein mit sich auszumachen. Die eigenen Sorgen mit Familienmitgliedern, guten Freunden, Gleichgesinnten oder mit Gott zu teilen, kann enorm entlastend wirken und dazu beitragen, ein Stück Resilienz gegenüber den Krisen dieser Welt aufzubauen und neue Zuversicht zu tanken.

Frage: Zuversicht braucht man auch, wenn man sich die aktuelle Situation der katholischen Kirche in Deutschland anschaut. Wie blicken Sie persönlich auf die Lage der Kirche?

Austen: Mein Blick auf die Kirche ist durchaus ambivalent. Natürlich sehe auch ich die vielen Probleme, Verunsicherungen und Polarisierungen, die es in unserer Kirche gibt. Zugleich sehe ich aber nach wie vor auch ganz viel Gutes. Nehmen Sie allein die Hundertausenden Haupt- und Ehrenamtlichen, die sich mit ganz viel Herzblut und im Geiste des Evangeliums in der Kirche und der Gesellschaft engagieren. Das ist ein riesiger Schatz, den wir viel mehr würdigen, pflegen und öffentlich herausstellen sollten. Ich habe mal ein schönes Sprichwort gehört: "Nur Weihrauch, der glüht, duftet." Da ist wirklich etwas dran, Christsein lebt vom persönlichen Zeugnis. Natürlich müssen wir die Probleme und Fehlentwicklungen in der Kirche klar benennen und dafür weiterhin Lösungen finden. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, mit glühenden Herzen auch über all das Positive zu sprechen, das unseren Glauben und unsere Kirche kennzeichnet.

„Diaspora ist für mich weder Wunschvorstellung noch Schreckgespenst, sondern eine Realität, der sich die Gläubigen in der jüdisch-christlichen Geschichte immer wieder stellen mussten.“

—  Zitat: Monsignore Georg Austen

Frage: Das Bonifatiuswerk unterstützt Katholiken, die in der Diaspora – also in einer extremen Minderheitensituation – leben. In Deutschland galt das bislang vor allem für Katholiken im Norden und Osten der Republik. Durch die vielen Kirchenaustritte der vergangenen Jahre geraten nun aber vermehrt auch Katholiken in anderen, früher stark katholisch geprägten Landesteilen in eine Minderheitensituation. Wird ganz Deutschland bald Diasporaland sein?

Austen: Nicht "wird", Deutschland ist längst Diasporaland! In den ostdeutschen Diözesen gehören etwa 70 bis 80 Prozent keiner christlichen Konfession an. Oder gucken Sie sich westdeutsche, ehemals stark katholisch geprägte Großstädte wie Köln oder München an – auch dort sind Christen zahlenmäßig längst in der Minderheit. Doch selbst in Regionen, in denen Katholiken noch die Mehrheit der Bevölkerung stellen, gibt es heute oftmals eine Glaubensdiaspora, bei der sich die tatsächlich praktizierenden Katholiken in einer Minderheitensituation wiederfinden. Die Zahl der Gottesdienstteilnehmer etwa ist inzwischen auch in solchen Regionen gering, in denen auf dem Papier noch viele Katholiken leben.

Frage: Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Austen: Diaspora ist für mich weder Wunschvorstellung noch Schreckgespenst, sondern eine Realität, der sich die Gläubigen in der jüdisch-christlichen Geschichte immer wieder stellen mussten. Es ist zwar eine bedauernswerte Entwicklung, die allerdings schon lange in den demografischen Prognosen vorhergesagt wurde. Wir sind in Deutschland keine Volkskirche mehr, sondern eine "Kirche im Volk". Auch eine lebendige Minderheit kann der Mehrheit allerdings wertvolle Impulse und Orientierung für das gemeinschaftliche Zusammenleben geben. Fest steht, dass sich die Gestalt unserer Kirche massiv verändert. Wie diese zum Beispiel in zehn Jahren aussieht, kann ich nicht vorhersagen.

Frage: Wirkt sich die hohe Zahl an Kirchenaustritten und die voranschreitende Säkularisierung auf die Arbeit Ihres Hilfswerks aus? Reagieren Sie darauf beispielsweise mit neuen Projekten oder neuen Förderkriterien?

Austen: Auftrag und Ziel des Bonifatiuswerkes ist es, als Hilfswerk des Glaubens und der Solidarität das Evangelium in die jeweilige Zeit hinein zu übersetzen und in die Gesellschaft hineinzutragen sowie Glaubensbildung und Glaubensorte zu unterstützen und voneinander zu lernen. Um das zu erreichen, evaluieren wir kontinuierlich unsere Projekte und Förderkriterien. Was hat sich bewährt? Wo müssen wir über Änderungen nachdenken? Was ist nicht mehr zeitgerecht? Und natürlich entwickeln wir immer wieder auch neue Angebote. In diesem Jahr haben wir beispielsweise eine Firm-App veröffentlicht, die Jugendlichen und Multiplikatoren einen zeitgemäßen und natürlichen Zugang zu Inhalten und Themen rund um die Firmung ermöglicht. Oder denken Sie an unsere Initiative "Räume des Glaubens eröffnen", die wir 2019 gestartet haben. Dabei fördern wir in ganz Deutschland neue innovative Projekte, die offen und einladend die Lebenswelt der Menschen mit dem Evangelium zusammenbringen. Das sind zwei Beispiele die zeigen, dass wir mit unseren Angeboten immer wieder auf gesellschaftliche, religiöse und auch digitale Entwicklungen reagieren.

Ein Mann verlässt eine Kirche
Bild: ©KNA/Harald Oppitz

"Wir brauchen dringend überzeugende pastorale Angebote für Menschen, die offiziell unsere Kirche verlassen haben", so Georg Austen mit Blick auf die hohe Zahl an Kirchenaustritten.

Frage: Nehmen Sie auch Menschen in den Blick, die aus der Kirche ausgetreten sind? Schließlich sind die ja nicht alle vom Glauben abgefallen, sondern häufig eher aus Protest gegen kirchliche Skandale oder aus Gründen der Steuerersparnis ausgetreten. Müsste die Kirche nicht eigentlich offensiv auf diese Menschen zugehen? Immerhin bleiben auch Ausgetretene getauft und damit Subjekte der Seelsorge, oder?

Austen: Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an. Ich halte es in der Tat für fatal, dass wir als Kirche zwar jedes Jahr die Zahl der Kirchenaustritte veröffentlichen und bedauern – uns danach aber kaum fragen, ob und wie wir diese Menschen mit dem notwendigen Respekt für ihre getroffene Entscheidung sensibel ansprechen können. Wir brauchen dringend überzeugende pastorale Angebote für Menschen, die offiziell unsere Kirche verlassen haben. Wie kann man sie in ihrer Lebensbiografie begleiten? Wie können wir sie – zum Beispiel bei Taufen, Beerdigungen oder kulturellen Veranstaltungen – mit der Botschaft des Evangeliums in Berührung bringen und, wenn gewünscht, mit ihnen in einen ehrlichen Dialog treten? Als Bonifatiuswerk wollen wir uns gemeinsam mit Verantwortlichen aus den Diözesen im kommenden Jahr intensiv diesem wichtigen Thema widmen.

Frage: Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, hat mit Blick auf die hohen Kirchenaustrittszahlen jüngst konstatiert, dass der Glaube an Gott in Deutschland zu verdunsten drohe. Die Fähigkeit der Kirche, Menschen für das Evangelium zu gewinnen und Orientierung zu geben, nehme mit jeder Generation ab. Wie sehr frustriert Sie dieser Befund?

Austen: Natürlich sind die hohen Austrittszahlen und die damit einhergehenden Abbrüche frustrierend. Aber wenn Wasser verdunstet, bleibt es in der Luft. Im Bild gesprochen bleibt dann auch verdunstender Glaube in der Luft. Dies ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite erlebe ich, wie sehr etwa die Angebote des Bonifatiuswerkes nach wie vor für die Glaubensbildung genutzt werden. Oder nehmen Sie die katholischen Kitas und Schulen: Trotz aller Austritte und aller Skandale in der Kirche werden diese Orte christlicher Wertevermittlung weiterhin sehr stark nachgefragt. Insofern: Ja, die Kirche in Deutschland steht vor großen Herausforderungen, wir sollten aber auch nicht alles nur defizitär beschreiben. Es gibt, wie gesagt, durchaus Zeichen, die mich trotz aller derzeitigen Belastungen zuversichtlich in die Zukunft blicken lassen.

Frage: Sie haben vorhin gesagt, dass ganz Deutschland bereits Diasporaland sei. Trotzdem gibt es große regionale Unterschiede – insbesondere zwischen Ost- und Westdeutschland. Während die Kirche im Westen lange volkskirchlich geprägt, gesellschaftlich fest verankert und finanziell abgesichert war, musste die Kirche im Osten als kleine Diasporakirche immer schon versuchen, mit geringen Ressourcen das kirchliche Leben am Laufen zu halten. Was kann die westdeutsche Kirche von diesen ostdeutschen Diaspora-Erfahrungen lernen?

Austen: Dass man auch mit geringeren finanziellen und personellen Mitteln auskommen muss und auch als kleine Minderheit lebendig und "schöpferisch" Kirche sein kann. Denken Sie nur an die Ökumenischen Höfe, die derzeit in Magdeburg entstehen, oder den geplanten Neubau des Zisterzienserklosters in Neuzelle. Das sind zwei Beispiele für beeindruckende Neuaufbrüche in der ostdeutschen Diaspora. Hinzu kommt: In Ostdeutschland setzt man notwendigerweise viel stärker auf das Engagement und das Glaubenszeugnis Einzelner, das oftmals besonders authentisch ist. Dort ist man auch auf die Zusammenarbeit mit Andersgläubigen und Andersdenkenden im Blick auf das Gemeinwesen angewiesen. Wir sollten den Blick aber auch über Deutschland hinaus weiten: Wenn wir etwa in unsere Fördergebiete nach Nordeuropa schauen, können wir sehen, wie dort eine kleine, multikulturelle Diasporakirche trotz aller Herausforderungen Menschen vieler Nationen eine Beheimatung bietet und segensreich wirken kann.

„Der erste Teil der Weltsynode scheint gelungen zu sein. Jetzt muss es mit Blick auf den zweiten Teil im kommenden Jahr darum gehen, den Schwung in die Ortskirchen mitzunehmen sowie den Dialog fortzuführen, um notwendige Schritte einleiten zu können.“

—  Zitat: Monsignore Georg Austen

Frage Sie haben durch Ihre Arbeit beim Bonifatiuswerk sehr gute Kontakte nach Nordeuropa und in das Baltikum. Wie blickt man von dort aus auf die Kirche in Deutschland?

Austen: Ich erlebe bei meinen Besuchen dort immer eine große Dankbarkeit für die Unterstützung der Spenderinnen und Spender aus Deutschland, weil viele kirchliche Projekte in Skandinavien und im Baltikum ohne die finanzielle Unterstützung aus Deutschland schwer oder gar nicht zu realisieren wären ...

Frage: Ich meinte eigentlich, wie man von dort aus auf den Zustand der Kirche in Deutschland blickt. Der Synodale Weg etwa wurde in Nord- und Osteuropa ja durchaus kritisch kommentiert ...

Austen: In der Tat gab es kritische Wortmeldungen zum Synodalen Weg. Fragen und Anfragen sind selbstverständlich legitim. Wichtig finde ich bei all dem, dass wir auf europäischer Ebene, aber auch in der Weltkirche immer respektvoll miteinander im Gespräch bleiben und Unterstellungen und Polarisierungen tunlichst vermeiden. Wir werden nur im Ringen, im Dialog miteinander und mit Gottvertrauen den richtigen Weg in die Zukunft finden und Entscheidungen treffen können – gerade auch bei Themen, die regional unterschiedlich betrachtet werden und nicht in der Ortskirche allein beantwortet werden können. Das gilt für den Synodalen Weg genauso wie für die Weltsynode.

Frage: Stichwort Weltsynode. Wie haben Sie die Versammlung wahrgenommen?

Austen: Ich war ja nicht selbst vor Ort. Aus den Medien und in Gesprächen habe ich aber erfahren, dass wichtige Fragen aus den einzelnen Kontinenten ohne Tabus angesprochen werden konnten. Offenbar war bei der Synode eine große Offenheit und Dialogbereitschaft zu spüren – das finde ich ermutigend. Deutlich geworden ist aber auch, dass die Synode, wie von Papst Franziskus ja ausdrücklich gewünscht, auch ein geistlicher Prozess ist. Das erklärt vielleicht auch, warum es nicht wirklich konkrete Reformbeschlüsse gab. Aber: Der erste Teil der Synode scheint gelungen zu sein. Jetzt muss es mit Blick auf den zweiten Teil im kommenden Jahr darum gehen, den Schwung in die Ortskirchen mitzunehmen sowie den Dialog fortzuführen, um notwendige Schritte einleiten zu können.

Von Steffen Zimmermann