Heilige Überreste
Das Wort Reliquie leitet sich vom lateinischen "relinquere" - "zurücklassen" ab und wird wörtlich mit "Überbleibsel" übersetzt. Es handelt sich bei Reliquien also um Überreste religiöser Persönlichkeiten. Dabei muss es sich übrigens nicht zwingend um ein Körperteil handeln, sondern kann auch ein Stück Kleidung der Person oder ein Gebrauchsgegenstand sein, mit dem der Heilige in Berührung gekommen ist. Doch Achtung, Reliquie ist nicht gleich Reliquie (siehe unten).
Für Gläubige haben diese "Überbleibsel" - egal welcher Kategorie - eine besondere Bedeutung; man erinnert bei der Verehrung nämlich nicht nur an den Tod des Heiligen, sondern erhofft sich Hilfe und Segen, indem der Heilige bei Gott Fürbitte hält. So werden beispielsweise Kranke mit einer Reliquie berührt, damit sie wieder gesund werden. Die Hilfe wird aber somit dem Heiligen selbst zugeschrieben - nicht dem Gegenstand als solchen. Als magisch darf man sie also nicht missverstehen.
Reliquienkult trieb kuriose Blüten
Einen ersten biblischen Beleg für Reliquien gibt es bereits in der Apostelgeschichte, wo Gläubige die Schweißtücher des Paulus entwendeten und sie Kranken auflegten. Die Reliquienfrömmigkeit selbst geht bis in die frühe Zeit der christlichen Kirche zurück: So nennt ein Bericht über das Martyrium des Polykarp aus dem zweiten Jahrhundert dessen aus der Asche geborgenen Gebeine "wertvoller als Edelsteine, kostbarer als Gold". Der Reliquienkult hatte begonnen.
Doch wie es sich mit so ziemlich jedem Kult verhält, trieb auch der um Reliquien in der Folge teils kuriose Blüten. So gab es beispielsweise bis zur Säkularisation im Kloster Gräfrath bei Solingen den Brauch, den angeblichen Kot des Esels zu verehren, auf dem Jesus an Palmsonntag in Jerusalem eingezogen ist. Im italienischen Calcata wurde bis 1900 die Vorhaut Jesu verehrt. Und auch Fläschchen mit der Muttermilch von Maria waren im Umlauf.
Immer wieder versuchte der Vatikan dem Handel mit (unechten) Reliquien einen Riegel vorzuschieben. So wandte sich schon das Vierte Laterankonzil 1215 - ganz allgemein - gegen Missbräuche im Reliquienwesen. Heiligenreste durften nicht mehr ohne Reliquiar gezeigt und zum Verkauf angeboten und neu gefundene Reliquien nicht ohne päpstliche Zustimmung verehrt werden. Bis heute verbietet das Kirchenrecht den Verkauf von Reliquien (CIC 1190).
Heute befindet sich in fast jeder Kirche eine Reliquie im Altar. Begründet ist diese Tradition in dem Schriftwort, dass sich die "die Seelen unter dem himmlischen Altar" befänden (Offb 6,9). Zunächst wurden die Altäre direkt über die Gräber der Märytrer gebaut; erst die Karolinger (8. bis 11. Jahrhundert) begannen damit, Translationen - also die feierliche Überführung von Reliquien an einen anderen Ort - durchzuführen. Bis heute steht im Kirchenrecht, die alte Tradition beizubehalten, unter einem feststehenden Altar Reliquien von Märtyrern oder Heiligen beizusetzen (CIC 1237).
Mit Tuchfühlung auf Gott
Mit Blick auf das Christentum sind es vor allem die Katholiken, die Reliquien verehren. Für Reformator Martin Luther waren sie "alles tot Ding", für die Zeugen Jehovas gilt deren Verehrung sogar als Götzendienst. Das sieht die katholische Kirche freilich anders: So erklärte das Konzil von Trient (1545-1563), dass Heilige und ihre Reliquien verehrungswürdig seien. Und auch der Kirchenlehrer Thomas von Aquin (1225-1274) setzte sich für Reliquienverehrung ein: Gott wirke in der Reliquie Wunder. Sie sei wie ein Vergrößerungsglas, indem sie die glorreichen Strahlen von Gottes Gnade bündele. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) bestätigte das: Es betonte in der Konstitution "Sacrosanctum Concilium" über die heilige Liturgie ausdrücklich die Verehrung der "echten Reliquien".
Doch sind Reliquien in Kirchen nun echt oder nicht? Das wird sich vermutlich in den seltensten Fällen abschließend klären lassen. Letztlich geht es aber wohl weniger um ihren historischen Ursprung, sondern um die Bedeutung, die sie für die Gläubigen haben. So werden in Aachen alle sieben Jahre vier berühmte Reliquien, darunter die Windel Jesus, gezeigt. Die Echtheit ist für Bischof Heinrich Mussinghoff dabei zweitrangig: Die Stoffe schafften eine geistliche und emotionale Verbindung zu Jesus, wodurch der Glaube gestärkt werde: "Gott tritt in Tuchfühlung mit uns - und wir treten mit Gott in Berührung".
Unterscheidung von Reliquien
- Reliquien erster Klasse: Bei diesen Reliquien handelt es sich um den Leichnam des Heiligen oder Teile davon. Beispiele sind hier das Herz der Teresa von Avila oder die Blutreliquien von Papst Johannes Paul II. Bei Heiligen, die verbrannt wurden, gilt die Asche als Reliquie.
- Reliquien zweiter Klasse: Das sind Gegenstände, die der Heilige berührt haben soll. Aus diesem Grund werden sie auch Berührungsreliquien genannt. Neben dem Turiner Grabtuch fallen in diese Kategorie auch die Werkzeuge, mit denen Heilige während ihres Martyriums gefoltert wurden.
- Reliquien dritter Klasse: Gegenstände, die Reliquien erster Klasse berührt haben, heißen Reliquien dritter Klasse. In der Regel geht es dabei um kleine Papier- oder Stoffquadrate, die kurz auf die entsprechende Reliquie gelegt und dann auf Heiligenbildchen geklebt wurden.