Lage in Kommunen sei jedoch nicht so dramatisch wie oft dargestellt

Caritas-Präsidentin zu Flüchtlings-Situation: Stimmung droht zu kippen

Veröffentlicht am 04.11.2023 um 12:19 Uhr – Von Birgit Wilke (KNA) – Lesedauer: 

Berlin ‐ Migration ist aktuell eines der beherrschenden Themen. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa blickt mit Sorge auf den "Überbietungswettkampf" zur Begrenzung der Asylzahlen. Im Interview äußert sie sich zu den Vorschlägen aus der Politik.

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Am Montag finden die nächsten Gespräche von Bund und Ländern im Bundeskanzleramt zur Flüchtlingspolitik statt. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa hofft im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) auf eine auskömmliche Finanzierung bei der Unterbringung von geflüchteten Menschen. Und sie wünscht sich von der Politik eine stärkere Einbindung der Wohlfahrtsverbände.

Frage: Frau Welskop-Deffaa, derzeit scheint es einen Überbietungswettkampf an Vorschlägen zur Begrenzung der Asylzahlen zu geben. Wie blicken Sie auf diese Entwicklung?

Welskop-Deffaa: Mir bereitet das große Sorgen – auch, weil dadurch andere wichtige Zukunftsfragen wie hinter einer Nebelwand verschwinden. Wir brauchen ein gleichstellungsfreundliches Elterngeld, ein auskömmliches Bürgergeld, bezahlbare Pflege, Anstrengungen gegen den Klimawandel – all das wird derzeit durch das Thema Migration verdrängt.

Frage: Also ist die Lage vor Ort mit Blick auf steigende Asylbewerberzahlen nicht so dramatisch?

Welskop-Deffaa: Nein, das kann man so nicht sagen. Wir haben sehr unterschiedliche Situationen, und viele Kommunen klagen zu Recht. Im Freiburger Raum stellen zum Beispiel die vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eine große Herausforderung dar, viele Jugendhilfeeinrichtungen sind am Rande ihrer Kapazität, weil in den vergangenen Monaten sehr viele Menschen unkontrolliert über die Schweizer Grenze gekommen sind.

Aber insgesamt stellt sich die Lage nicht so dramatisch dar, wie sie oft beschrieben wird. Die Nervosität in der Sprache passt meiner Ansicht nach nicht wirklich zum objektiven Befund bundesweit. Zugleich hat die ständige Debatte über die Notwendigkeit einer Begrenzung der Asylbewerberzahl ihrerseits schon jetzt vor Ort Auswirkungen.

Eva Maria Welskop-Deffaa, Vorstand für Sozial- und Fachpolitik im Deutschen Caritasverband, am 26. August 2021 in Berlin.
Bild: ©Jannis Chavakis/KNA

"Die Nervosität in der Sprache passt meiner Ansicht nach nicht wirklich zum objektiven Befund bundesweit", sagt Eva Maria Welskop-Deffaa mit Blick auf die Flüchtlings-Lage in den Kommunen.

Frage: Welche sind das?

Welskop-Deffaa: Die Stimmung in der Zivilgesellschaft droht zu kippen. Das merken etwa unsere Mitarbeitenden in den Hilfseinrichtungen. Viele haben das Gefühl, ihre Umgebung sei nicht begeistert, wenn sie erfährt, dass ihre Nachbarin oder ihr Nachbar in der Asylverfahrensberatung tätig ist. Sie sind dann mit Fragen konfrontiert wie "Musst du dich denn jetzt um diese Leute so stark kümmern?"

Das gab es in den vergangenen Jahren in dieser Form nicht und es belastet unsere Mitarbeitenden zusätzlich. Wir versuchen natürlich, ihnen den Rücken zu stärken und uns auf politischer Ebene für kluge Lösungen einzusetzen, während es weniger Scheinlösungen zu verhindern gilt.

Frage: Was meinen Sie damit konkret?

Welskop-Deffaa: In der vergangenen Woche hat die Bundesregierung ein Paket verabschiedet, das zu mehr Rückführungen führen soll. Dort ist unter anderem vorgesehen, dass die Polizei in Gemeinschaftsunterkünften nicht nur die Zimmer abzuschiebender Ausländer und Ausländerinnen, sondern auch Zimmer Dritter betreten und durchsuchen darf.

Das kritisieren wir, weil es die Lage der Menschen fahrlässig belastet, die mit teilweise sehr extremen Flucht- und Gewalterfahrungen bei uns angekommen sind. Sie sollen sich in den Unterkünften sicher fühlen, Zuwendung erfahren und nicht durch unangemeldete Durchsuchungen, die mit ihnen nichts zu tun haben, retraumatisiert werden.

Frage: Was halten Sie davon, dass Asylbewerber Sachleistungen statt Bargeld erhalten sollen, wie es einige Politiker fordern?

Welskop-Deffaa: Wenn es sich um Bezahlkarten handelt, haben wir grundsätzlich nichts gegen eine Abkehr vom Bargeld. Es sollte aber so sein, dass Asylbewerber mit der Karte Geld abheben und bei ihren Einkäufen frei entscheiden können, was sie für das Essen brauchen. Anders als in Europa stehen Kartoffeln in vielen Herkunftsländern nicht oben auf dem Speisezettel. Versuche, auf echte Sachleistungen umzusteigen, haben sich bisher als teuer und bürokratisch erwiesen.

Frage: Auch eine Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit haben Politiker ins Gespräch gebracht.

Welskop-Deffaa: Arbeit hat eine wichtige Funktion im Integrationsprozess. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist für Asylbewerber faktisch und rechtlich immer noch durch Hürden versperrt. Diese abzubauen ist vorrangig.

Bild: ©picture alliance/dpa/Bernd Von Jutrczenka (Symbolbild)

"Verhandlungsinhalt müssen jeweils auch erleichterte legale Migrationsmöglichkeiten sein", sagt die Caritas-Präsidentin zu möglichen Rückführungsabkommen der Bundesregierung mit anderen Staaten.

Frage: Ein weiterer Punkt, mit dem die Bundesregierung beschäftigt ist, ist das Aushandeln von Rückführungsabkommen.

Welskop-Deffaa: Auch da kommt es auf die Ausgestaltung an. Es geht nicht um Prämiensysteme für Regierungen, die einen irregulär nach Deutschland eingereisten Menschen zurücknehmen. Da können schnell Fehlanreize entstehen. Verhandlungsinhalt müssen jeweils auch erleichterte legale Migrationsmöglichkeiten sein.

Frage: Am Montag findet der nächste Flüchtlingsgipfel statt. Es wird vor allem um die Kosten der Unterbringung gehen. Glauben Sie das Bund und Länder sich einigen werden?

Welskop-Deffaa: Ich bin da zuversichtlich, zumal die Bundesländer ja sehr geschlossen dastehen. Ob uns als Caritas die Ergebnisse gefallen, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Insgesamt hoffe ich, dass die Menschlichkeit bei allen Bemühungen um eine Regulierung nicht auf der Strecke bleibt.

Frage: Während der großen Koalition wurden regelmäßig auch die Wohlfahrtsverbände und andere Organisationen befragt, wenn es um die Flüchtlingshilfe ging.

Welskop-Deffaa: Ja, da hat sich mit der jetzigen Regierung in der Tat etwas verändert. Im Augenblick ist es häufiger so, dass Bund und Länder und vielleicht noch die Kommunen zunächst ohne uns miteinander reden und die Zivilgesellschaft, insbesondere die Wohlfahrtsverbände, erst im zweiten Schritt dazukommen.

Teilweise werden wir dann mit weitgehenden Erwartungen, etwa nach Standardabsenkung konfrontiert, die wir umsetzen sollen. Da sind wir schon ein bisschen schockiert. Ein solches Verhalten entspricht nicht unserem Verständnis von subsidiärer Verantwortung im Sozialstaat. Langsam scheint sich das hier und da wieder zu verbessern, und ich würde das sehr begrüßen, schließlich haben wir – damit meine ich alle Verbände, die sich engagieren – die Expertise in der Praxis und gezeigt, dass unser Netz beruflich und freiwillig Engagierter in Krisen trägt.

Von Birgit Wilke (KNA)