"Kraftvoll, aber nicht unnahbar"
Frage: Herr Kardinal, am 2. April jährt sich zum zehnten Mal der Todestag von Papst Johannes Paul II. Sie selbst sind ihm vor allem während Ihrer Zeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz regelmäßig begegnet. Wie würden Sie den polnischen Papst in der Rückschau charakterisieren?
Lehmann: Er hatte eine kraftvolle Autorität, aber er war nicht unnahbar - das habe ich über die Jahre sehr zu schätzen gelernt. Ich konnte als Vorsitzender der Bischofskonferenz jederzeit auch schwierige Fragen gut und vertrauensvoll mit ihm besprechen. Auch wenn wir bei einzelnen Themen unterschiedlicher Auffassung waren, war er im persönlichen Gespräch stets aufmerksam und Argumenten gegenüber aufgeschlossen. Das hat mein Verhältnis zu ihm trotz aller Konflikte insgesamt sehr positiv beeinflusst.
Frage: Sie sprechen die Konflikte an: Vor allem in der Diskussion um die Schwangerenkonfliktberatung haben Sie sich Ende der neunziger Jahre lange dem Willen von Johannes Paul II. nach einem Ausstieg der Kirche aus dem staatlichen Beratungssystem widersetzt...
Lehmann: Aber auch bei diesen Diskussionen war er nie ärgerlich oder unwirsch. Vielmehr hat er mir bei unseren zahlreichen Gesprächen zu diesem Thema immer ausführlich Gelegenheit gegeben, meine Argumente vorzutragen. Mein Verhältnis zu ihm hat sich durch diese Auseinandersetzung und auch durch seine spätere Anordnung zum Ausstieg aus dem Beratungssystem jedenfalls nicht verschlechtert.
Frage: Gilt das auch für die langwierigen Diskussionen um die "Königsteiner Erklärung" (siehe Textbox) der deutschen Bischöfe, deren Rücknahme Johannes Paul II. ja lange gefordert hat?
Lehmann: In dieser Auseinandersetzung hat er mich - das muss ich im Rückblick sagen - wirklich beeindruckt. Obwohl er zunächst in der Tat darauf bestand, dass wir die Erklärung zurückziehen, hat er doch meinen Vorschlag akzeptiert, ihm eine größere Stellungnahme darüber zuzuleiten, was die Erklärung eigentlich wollte und wie sie im Laufe der Jahre auch missverstanden worden ist. Und als ich ihm diese Stellungnahme dann übergeben habe, hat er wahrscheinlich gemerkt, dass das Thema doch vielschichtiger ist. Jedenfalls hat er am Ende nicht mehr darauf bestanden, die Erklärung zurückzuziehen.
Stichwort: Königsteiner Erklärung
Als "Königsteiner Erklärung" wird ein Dokument der deutschen Bischöfe aus dem Jahr 1968 bezeichnet. Die Erklärung, die in Königstein im Taunus veröffentlicht wurde, war eine Reaktion auf die am 25. Juli 1968 veröffentlichte Enzyklika "Humanae vitae" von Papst Paul VI. (1963-1978). Die Enzyklika ist bis heute grundlegend für das Nein der katholischen Kirche zur künstlichen Empfängnisverhütung. In dem Lehrschreiben, das auch als Antwort der Kirche auf die Antibabypille interpretiert wurde, formulierte Paul VI., dass "jeder eheliche Akt von sich aus auf die Erzeugung menschlichen Lebens hingeordnet bleiben" müsse. Konkret lehnt die Enzyklika alle Formen der künstlichen Empfängnisverhütung wie Kondome oder die Pille ab und sieht nur natürliche Methoden der Verhütung wie die Temperatur- oder Zyklusmethode als moralisch vertretbar an. In ihrer "Königsteiner Erklärung" widersprachen die deutschen Bischöfe der Enzyklika nicht explizit, versuchten aber, pastorale Hilfen zu geben und die persönliche Gewissensentscheidung der Eheleute zu respektieren. (stz/KNA)Frage: Wo sehen Sie mit Blick auf die lange Amtszeit die größte Leistung von Johannes Paul II.?
Lehmann: Er hatte natürlich einen riesigen Anteil am Zusammenbruch des Kommunismus. Das ist ein bleibendes Verdienst seines Pontifikats. Das wollte er zwar nie hören - da war er absolut uneitel -, aber es ist so. Durch seine herausragenden Kontakte hat er bei den Umwälzungen in Osteuropa, vor allem natürlich in seiner Heimat Polen, eine ganz wichtige Rolle gespielt.
Frage: 17 Tage nach dem Tod von Johannes Paul II. wurde Joseph Ratzinger im Konklave zum Papst gewählt. Was haben Sie gedacht, als das Wahlergebnis bekannt gegeben wurde?
Lehmann: Es war für mich jedenfalls keine große Überraschung - vor allem nachdem sich Carlo Maria Martini, der damalige Erzbischof von Mailand, doch als sehr krank erwiesen hatte. Der hätte mit seinem hohen Ansehen, das er weltweit genoss, eine echte Alternative sein können. Doch wegen seiner für jeden erkennbaren Parkinson-Krankheit war eigentlich schnell klar, dass es auf Joseph Ratzinger zulaufen würde. Ratzinger war über Jahrzehnte im Vatikan, die meisten Bischöfe waren in all den Jahren im Rahmen der Ad-limina-Besuche mit ihm zusammengetroffen, er war als Theologe weltweit anerkannt - er war der überlegene Kandidat, der sich im Konklave dann ja auch schnell durchgesetzt hat.
Frage: Wie bewerten Sie rückblickend das Pontifikat von Benedikt XVI.?
Lehmann: Es tut mir leid, dass seine Bedeutung als Papst auch angesichts der weltweiten Faszination für Franziskus bislang noch nicht ausreichend gewürdigt wird. Stattdessen werden einige kirchenpolitische und personelle Entscheidungen seines Pontifikats sehr kritisch diskutiert. Wir dürfen die Bilanz der Benedikt-Jahre aber nicht unterschätzen: Er hat eine bleibende Bedeutung und ich denke, es kommt der Tag, an dem er volle Anerkennung erfahren wird.
Frage: Welche Aspekte seines Pontifikats verdienen aus Ihrer Sicht eine besondere Würdigung?
Lehmann: Da sind zum einen seine Äußerungen zur Rolle der Kirche in der modernen Welt, mit denen er viel Orientierung gegeben hat. Auch seine Predigten und Meditationen waren schon genial. Und was man oft vergisst: Er hat das Verhältnis zur Orthodoxie erheblich verbessert und auch gegenüber dem Judentum Türen geöffnet. Das alles sind Aspekte seines Pontifikats, die bleiben und ganz sicher noch eine große Würdigung erfahren werden.
Frage: Ähnlich wie mit Johannes Paul II. verbindet Sie auch mit Benedikt XVI. eine lange gemeinsame Wegstrecke. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu ihm beschreiben?
Lehmann: Ich kenne Joseph Ratzinger seit 1962, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Dort war er zu mir - dem neun Jahre Jüngeren - außerordentlich kollegial und verständnisvoll. Und er hat mich auch später gefördert: Als ich 1968 meine eigene Professur in Mainz angetreten habe, hat er sich sehr für mich eingesetzt. Darüber hinaus haben wir bei vielen Projekten zusammengearbeitet, zum Beispiel in der Internationalen Theologenkommission des Vatikan, im Ökumenischen Arbeitskreis und bei der Gründung der Zeitschrift "Communio". Insgesamt kann ich schon sagen, dass ich Joseph Ratzinger als Theologen immer ausgesprochen verehrt habe. Ich weiß zum Beispiel noch sehr genau, wie fasziniert ich von seinem 1968 erschienenen Buch "Einführung in das Christentum" war.
Frage: Als er später Papst war, war das Verhältnis aber nicht immer so spannungsfrei...
Lehmann: Das stimmt. Er hat natürlich gerade uns Deutschen sehr auf die Finger geschaut, weil er glaubte, sich hier noch besonders gut auszukennen. Allerdings war er damals ja schon mehrere Jahrzehnte in Rom. Trotzdem hat auch das nicht zu dauerhaften Verwerfungen geführt. Im Gegenteil: Dieser Papst hat für uns alle mehr zum Guten verändert, als wir oft bemerkt haben.