Bingener: Faktor Religion muss in Außenpolitik größere Rolle spielen
Am Mittwochmittag hat der Beauftragte der Bundesregierung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe, in Berlin den dritten Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit vorgestellt. Im Interview mit katholisch.de äußert sich der Präsident des katholischen Hilfswerks missio Aachen, Pfarrer Dirk Bingener, zu dem Bericht und notwendigen Folgen für das Regierungshandeln.
Frage: Pfarrer Bingener, wie bewerten Sie den Regierungsbericht zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit?
Bingener: Ich begrüße den Bericht sehr, weil dadurch ein wichtiges Menschenrecht noch einmal stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt wird. Gut finde ich vor allem, dass der Bericht im Vergleich zum Vorgängerbericht von 2020 deutlich mehr Länder und ihren Umgang mit der Religionsfreiheit in den Blick nimmt – nämlich 41 statt 30. Zudem begrüße ich den von Herrn Schwabe gewählten Schwerpunkt mit Blick auf die Situation indigener Völker: Diese Völker und ihre Spiritualität sind sonst kaum im Fokus, obwohl wir hier weltweit von rund 470 Millionen Menschen reden.
Frage: Gibt es etwas in dem Bericht, das Sie besonders überrascht hat?
Bingener: Überrascht nicht. Besonders gelungen finde ich aber, dass Herr Schwabe auch die oftmals besonders herausfordernde Situation von Frauen thematisiert hat. Damit schlägt er eine Brücke zur Außen- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung – Stichwort feministische Außenpolitik. In der Tat sind nämlich Frauen oftmals doppelt benachteiligt: einmal wegen ihres Geschlechts, aber auch – wenn sie einer religiösen Minderheit angehören – wegen ihrer Religion. Dass das im Bericht deutlich gemacht wird, finde ich wichtig. Auch kommt in dem Bericht klar zum Ausdruck, wie entscheidend religiöse Akteure für die Umsetzung der Ziele der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik sind. Man hat in der Bundesregierung offenbar endlich verstanden, dass sich beispielsweise die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) ohne die Unterstützung religiöser Akteure nicht erreichen lassen.
„Wenn Menschen wegen ihrer Religion verfolgt werden und nicht mehr in ihrem Land leben können, muss es die Möglichkeit geben, dass sie humanitäre Visa erhalten.“
Frage: Bislang hatte man allerdings nicht den Eindruck, dass der Faktor Religion in der Außenpolitik der Ampelregierung eine große Rolle spielt. Sollte die Regierung hier also umsteuern?
Bingener: Unbedingt, das macht der Bericht überdeutlich. Insofern ist es auch wichtig, dass er im Auswärtigen Amt inklusive der deutschen Auslandsvertretungen und im Entwicklungsministerium jetzt sehr genau gelesen und ausgewertet wird, um daraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen. Wenn Menschen wegen ihrer Religion verfolgt werden und nicht mehr in ihrem Land leben können, muss es beispielsweise die Möglichkeit geben, dass sie humanitäre Visa erhalten. Konkret gilt das etwa für Christinnen und Christen in Pakistan, die wegen eines Blasphemie-Vorwurfs im Gefängnis sitzen und selbst bei einem Freispruch um ihr Leben fürchten müssen. Ich war vor zwei Wochen in Pakistan und habe gesehen, wie sehr die Menschen dort unter diesen Blasphemie-Gesetzen leiden. Jeder kann aufgrund einer Anzeige wegen Blasphemie im Gefängnis landen. Das prägt das Leben der Christen dort und bringt das Gefühl mit sich, Bürger zweiter Klasse zu sein. Mir ist wichtig klarzumachen: Religionsfreiheit ist kein abstraktes Thema, sondern bestimmt das Leben vieler.
Frage: Gibt es ein Land, das Ihnen nach der Lektüre des Berichts mit Blick auf die Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit besonders große Sorgen bereitet?
Bingener: Ich möchte ungern ein Land hervorheben, weil wir tatsächlich in sehr, sehr vielen Ländern mit Verletzungen der Religionsfreiheit konfrontiert sind. Selbst in solchen Ländern, die die Religionsfreiheit formal achten. Hier möchte ich noch einmal auf Pakistan zurückkommen: Das Land verfügt zwar über Gesetze, die die Religionsfreiheit zusichern. Viele Menschen vor Ort haben mir in Gesprächen aber gesagt: "Wir haben solche Gesetze, aber ...". Das zeigt, dass Gesetze nicht helfen, wenn sie nicht beachtet werden. Auch die Bundesregierung ist deshalb aufgerufen, in ihrer Außenpolitik stärker darauf zu achten, dass Gesetze zur Sicherung der Religionsfreiheit auch wirklich angewendet werden.
Frage: Berichte über Einschränkungen der Religionsfreiheit und über verfolgte religiöse Minderheiten gab es in den vergangenen Jahren viele. Die Situation scheint sich trotzdem nicht zu verbessern. Woran liegt das?
Bingener: Das liegt sicher vor allem daran, dass die Menschenrechte durch Kriege und Konflikte insgesamt in vielen Ländern immer stärker unter Druck geraten. Darunter leidet natürlich auch das Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Die Politik wird in vielen Regionen der Welt zusehends autokratischer und nationalistischer, zudem wird Religion für eigene politische Zwecke missbraucht. Das führt oft zu Verletzungen der Religionsfreiheit von Minderheiten. Hinzu kommt nach meiner Wahrnehmung auch eine ungute Rolle der sozialen Medien, die stark zur Polarisierung beitragen und ein Brandbeschleuniger gesellschaftlicher und auch religiöser Konflikte sein können.
Frage: Sie haben schon gesagt, welche Lehren die Politik aus dem Bericht ziehen sollte. Hat der Bericht denn auch Folgen für die Arbeit von missio?
Bingener: Ganz sicher. Dadurch, dass die Bundesregierung im Bericht das Signal sendet, dass sie verstanden hat, wie wichtig die Rolle von Religionen bei der Lösung internationaler Probleme ist, werden wir sicher noch offensiver unsere Mithilfe anbieten. Ich verstehe den Bericht durchaus als Wertschätzung unserer Arbeit bei missio und sehe ihn als Ermutigung, gemeinsam mit Herrn Schwabe, dessen Amt sicher weiter gestärkt werden sollte, die Ärmel hochzukrempeln und uns noch engagierter dem Schutz der Religionsfreiheit in aller Welt zuzuwenden.